Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Rüdiger Sünner: Zeige deine Wunde. Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys

Der Strom intellektueller Deutungen zur Kunst ist gewaltig; die Auffassung des Ästhetischen als eines „sinnlichen Scheinens der Idee“ (Georg W.F. Hegel) öffnete Schleusen, die die Abstraktion der Moderne und ihre konzeptuellen Ansätze noch weiter aufstießen.

Rüdiger Sünner, 1953 in Köln geborener und heute in Berlin tätiger Filmemacher und Musiker, stellt seine sensible spirituelle „Spurensuche“ im hochkomplexen und vielgestaltigen Gesamtwerk Joseph Beuys‘ eigenwillig mitten in diesen Strom hinein – ohne der akademischen Deutungslogik zu folgen. Was er erspürt hat, präsentiert der eindrückliche Film „Zeige deine Wunde“ von 2015. Fundierte Erkenntnisse sowie teils sehr persönliche Empfindungen und Gedanken schrieb der freie Autor während der Film-Produktion nieder und veröffentlichte sie schon damals im gleichlautenden Buch, das nun im Jubiläumsjahr zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys am 12. Mai 2021 neu aufgelegt wurde. Der subjektive, immer wieder das eigene Erleben schildernde Zugang Sünners ist dabei von intensiven Recherchen zur Biographie des Künstlers, zu Entstehung und Kontext der Werke von subtilen frühen Zeichnungen bis hin zu medienwirksamen Installationen oder Performances der späteren Jahre begleitet. Der erste Satz des Buches „Als ich 16 war, hatte ich einmal früher Schulschluss als sonst …“ leitet die erste Begegnung mit einem Werk des Künstlers in der Kölner Kunsthalle („Das Rudel“) ein, lässt jedoch von der Reflexionstiefe der Betrachtung noch nichts ahnen. Er soll wohl gleich zu Beginn eine entscheidende Vorausetzung für eine fruchtbare Begegnung mit Beuys beschreiben: die Bereitschaft, der intuitiv-emotionalen Ebene einen Raum zu geben, wie sie bei jungen Menschen oftmals noch authentisch ausgeprägt ist und später zumindest im Unbewussten weiterlebt.

Die frühe Berührung erweist sich für Sünner als ein Wegweiser und ihre spätere Wiederholung und Vertiefung als ein Heilmittel im umfassenden Sinne des Wortes. Beuys sei – so Sünner mit einer Formulierung C. G. Jungs – ein „verwundeter Heiler“ (15) gewesen, dessen Kunst sich zwischen den Polen „Kälte und Wärme, Verwundung und Heilung“ abgespielt habe. Als Student stillt der Autor seinen Erkenntnishunger, den die rational-wissenschaftliche Abstraktion nicht befriedigen konnte, etwa mit dem Besuch der internationalen Kunstausstellung documenta 6 in Kassel 1977. Er trifft dort wiederum auf Beuys und dessen Wärme verströmende, goldgelb glänzende Honigpumpe zwischen den zeittypischen angestrengten Theoriedebatten, von denen sich die zugewandte Gesprächshaltung des „Heilers“ stets abhob. In der späteren Reflexion werden diese Eindrücke bereichert um die kulturhistorischen und ökologischen Implikationen, auf die sich Beuys mit dem Thema der Biene und ihrer „plastischen“ Produkte Honig und Wachs bezog. Solche Begegnungen ließen den Filmemacher seine eigentliche Berufung außerhalb der Universität finden, und ihre Schilderungen ermöglichen den Lesern heute, die Hintergründigkeit eines oft verlachten Oeuvres zu erahnen und vielleicht sogar zu erschließen.

Intensiv und erfolgreich bemüht sich Sünner um eine verständliche Darstellung des künstlerischen und zugleich schamanistischen Selbstverständnisses des Niederrheiners, der katholisch erzogen und trotz seines späteren Kirchenaustrittes von spirituellen Kernelementen seines ursprünglichen Glaubens weiterhin getragen wurde – auch wenn diese sich mit einer unorthodox aufgefassten Anthroposophie und keltischen Mythologie verbanden und in einer auf Transformation ausgehenden Kunst selbst transformiert wurden. Ausdrücklich – etwa in Interviews – wie symbolisch bezieht sich Beuys auf Christus, so als Gekreuzigter in Plastilin geformt auf einem zentralen Essteller der „Ausschwitz-Demonstration“ – einer zwischen 1956 und 1964 entstandenen Vitrine (im Landesmuseum Darmstadt); im „schwebenden“ Großkreuz des Kriegerdenkmals von Büderich (1959); nach der Attacke 1964 im Aachener Audimax, als er blutend ein Kruzifix erhebt (von Sünner leider nicht erwähnt); bei einer Fußwaschung in der Karwoche 1971 in Basel (während der Aktion „Celtic“). In das schottische Rannoch-Moor, das in heidnischer Zeit als Tor zur Anderswelt betrachtet wurde, taucht Beuys ein und in der Haltung des Gekreuzigten wieder auf; auf einem Foto vor einem Bunker mitten im Moor lässt er sich in dieser Haltung ablichten und manifestiert damit, wie Sünner vermutet, eine Versöhnungsgeste gegen den barbarischen Totenkult der Vorzeit und den Kriegswahnsinn der Gegenwart (161): der Gekreuzigte als Symbol des Auftauchens und Auferstehens aus Leiden und Tod, als Ausdruck vollständiger Transformation durch und nach dem Eintauchen in die „Unterwelt“.

Joseph Beuys hat seine Geburt als „Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammen gezogenen Wunde“ (vgl. 118) beschrieben – alle Zitate und Quellen werden im Buch genau belegt – und war nach einem Absturz über der Ukraine während seines Einsatzes bei der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg bewusstlos und schwer traumatisiert; eine ebenfalls lebensbedrohliche Depression in den 1950er Jahren überlebte er nur dank der intensiven Fürsorge der niederrheinischen Familie van der Grinten, die heute auf Schloss Moyland eine der weltweit bedeutenden Beuys-Sammlungen zeigt. Beuys‘ Kunst ist nicht zuletzt ein „Projekt des Trauerns“ (Gene Ray, 111), das die Begegnung mit dem Dunklen, Abgespaltenen, Abgesonderten, dem oft mit Abwehr und Ekel Verbundenen sucht, um es zu integrieren und ins Licht zu führen.

Rüdiger Sünner bemerkt, dass Transzendenz bei Beuys vorsichtig anklinge, ohne sich aufzudrängen; das schmälert nicht die oft gleichsam „sakramentale“ Wirkung vieler seiner Wandlungs-Zeichen, die erstaunlicherweise material – gerade unterhalb der Idee, eher das Unbewusste berührend – eben jene seelische Umwälzung auslösen können, auf deren wunderbares Potential sie hinweisen. An diese Kraft glaubte der Romantiker Beuys schon mit 22 Jahren als er schrieb: „Doch aus steintoten Herzen / sollen die lebenden wachsen wie die blaue Blume / Und jede Blüte soll wieder / Ein schlagendes Steinherz gebären.“ (166) Der Titel „Zeige deine Wunde“ ist einer heute im Münchener Lenbachhaus ausgestellten Installation von Beuys entnommen, die ebenfalls Erstarrung und Todesnähe mittels zweier Leichenbahren erschreckend spürbar macht und mit Kinderschrift in Kreide auf Tafel eben jene zarte Aufforderung zum Offenlegen der Schmerzensquelle enthält, was Wandlung und Heilung ermöglicht.

Noch ein Hinweis: In der Reihe „Zeitgeschichte in Lebensbildern – Katholische Persönlichkeiten des 20. und 21. Jahrhunderts“ (hrsg. von Jürgen Aretz u.a.) wird Wolfgang Bergsdorf Beuys als religiöse Künstlerpersönlichkeit vorstellen, die vor allem als großer Kommunikator gewirkt habe.

München: Europa Verlag. 2021 (Jubiläumsausgabe)
221 Seiten m. s-w. Abb.
18,00 €
ISBN 978-3-95890-349-4

Zurück