Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Sibylle Lewitscharoff / Heiko Michael Hartmann: Warten auf. Gericht und Erlösung: Poetischer Streit im Jenseits

„Unser keiner lebt sich selbst, und niemand stirbt sich selber.“ Der dezidierte Vers aus dem Römerbrief (14,7) steht am Eingang dieses Dialogbuches, und man darf in ihm einen Schlüssel sehen für alles, was folgt. Denn bekanntermaßen sind Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit, Leib und Seele, sicherlich auch Schuld und Sühne samt der Idee der Gerechtigkeit irdisch inkommensurabel. Nur die Zusatzannahme Gott eröffnet eine Dimension, die auf eine Aufhebung dieser Gegensätze, auf ihre Versöhnung hoffen lässt. Die christliche Kunde von der Trinität wagt sich hier weit voran, wenn sie davon spricht, dass Gott „in“ Jesus Christus Mensch wurde; dass in Jesu Auferstehung der garstige Todesgraben zu einem Hoffnungszeichen wurde. Christen halten an dieser Kunde fest, daran, dass sie nach diesem Leben der communio sanctorum, der Gemeinschaft der Heiligen, angehören werden. Wer „Näheres“ erfahren möchte, gerät, eschatologische Traktate hin oder her, schnell in Sackgassen und auf Abwege.

Davon handelt das ungewöhnliche Buch von Sibylle Lewitscharoff und Heiko Michael Hartmann. Hier treffen sich zwei Menschen, eher zwei Seelen, nach ihrem Tod in einem Jenseits, das so gar nicht ihren irdischen Vorstellungen gleicht. Sie, Gertrud Severin, 1968 in Stuttgart-Degerloch geboren, war Lehrerin und in einem schillernden, doch letztlich christlichen Verständnis des „Nachher“ geborgen. Sie erhoffte sich ein „Gericht, das erleuchtet“, eine „göttlich inspirierte Wühlarbeit“, einen „neu erschaffenen transzendentalen Leib“. Er, ein Intellektueller, dem es schwerfällt, Biographisches preiszugeben, hoffte auf eine Entgrenzung, darauf, sich in einer „göttlichen Substanz“ aufzulösen. Nun aber, nach einem durch einen Flugzeugabsturz bedingten dramatischen Ableben „ohne Grab“, befinden sich beide in einem höchst verwirrenden Zustand; in einem Jenseits des Todes, das eher einem Wartesaal und einem Spiegellabyrinth denn einem Paradies oder Nirwana gleicht. Ihre Wortwechsel – die „schwäbische Provinznudel“ und ihr grantiger „Widerborst“ können sich hören, aber nicht sehen – spiegeln ihre Welt- und Himmelsichten wider, im gleichen Maße ihre Ratlosigkeiten. „Mir war im Leben die Solidarität mit den Toten wichtig – deren Erlösung, aufgehoben in flaumiger Anmut und Schönheit, beflügelt vom Erbarmen, die den sich zersetzenden Leib von Stank und geronnenem Blut befreit“, lautet ein typischer Gertrud-Satz. „Ein Mensch, der nach seinem Tod die Schranken seiner Prägungen überwinden will, sucht die Transzendenz möglicherweise mit mehr Inbrunst und Glaubwürdigkeit als du, die sich selbst und ihre Erinnerungen mit in ein Jenseits nehmen will, in dem sie ihre verstorbenen Kumpane, vielleicht auch ihre Haustiere unter großem Hallo wiedertreffen möchte“, so der Einwurf ihres namenlosen „Jenseitsgefährten“. Auf jeder Seite des Buches finden sich solche Zurufe, die auf eine ingeniöse und ausdauernde Weise die Schwierigkeiten buchstabieren, Zeit und Ewigkeit zusammenzudenken. Das macht das Buch einerseits zu einer Tour de force, die eher eine abschnittsweise denn eine Lektüre „in einem Zug“ empfehlenswert macht. Andererseits wird der geduldige Leser mit einer Fülle von Einsichten und Bildern belohnt, die er zu seinen eigenen machen oder ihnen widersprechen kann. So erweitert sich der Dialog der beiden unfreiwilligen Jenseitsgefährten zu einem Gespräch mit dem Leser, der in der Regel wohl die hoffnungsvolle Gertrud wie ihren skeptischen Widerpart in sich vereinigen dürfte.

Und da gibt es noch weitere Akteure dieses Jenseitsspiels. Nach und nach kann Gertrud umrisshafte Gestalten wahrnehmen, verhuschte Seelen, mit denen sie kurze Gespräche führt. Es sind nur Andeutungen, die sie wahrnehmen kann, denn diese Wesen sind nicht sehr gesprächig. Doch „trifft“ sie nicht nur ihr bis dato Unbekannte, sondern auch epochale Literaten wie Christine Lavant, Gilbert Keith Chesterton oder Samuel Beckett. Der irdische Ruhm freilich zählt „hier“ nicht viel: „Hier oben gibt’s ja nicht mehr gar so viel zu spekulieren und zu theoretisieren“, meint Chesterton. „Wir müssen einfach warten und brauchen Geduld.“ Ist damit das letzte menschenmögliche Wort gesagt? Wir wissen es nicht, und auch Sibylle Lewitscharoff und Heiko Michael Hartmann können es nicht wissen. Der denkwürdige „Poetische() Streit im Jenseits“ zeigt uns aber, dass wir über die „Letzten Dinge“ nachdenken dürfen und sollen, gerade dann, wenn unsere Hoffnung das dem Menschen Mögliche übersteigt.

Freiburg: Herder Verlag. 2020
208 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-451-39212-2

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