Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Silvia-Iris Beutel /Birgit Xylander: Gerechte Leistungsbeurteilung

Noten sind meist nicht „gerecht“ – darin sind sich sicherlich viele Akteure im Handlungsfeld Schule einig. Die Ziffern spiegeln nicht wider, ob zuhause Unterstützung stattfindet, ob Anstrengung investiert wurde, um etwas, das man zuvor schwer fand, endlich zu schaffen und ein Erfolgserlebnis wahrzunehmen, ob Unterricht fachlich oder auf der Beziehungsebene „gut“ war. Nichtsdestotrotz bestimmen Noten die Lern- und Leistungskultur unseres Schulsystems.

Der vorliegende Band plädiert für eine gerechtere Leistungsbeurteilung, die mit einer neuen Lernkultur einhergehen muss. Die Autorinnen, die beide an der Deutschen Schulakademie mitarbeiten, geben einen Impuls, die etablierten Bewertungssysteme angesichts der Aufgaben und aktuellen Herausforderungen von Bildung zu hinterfragen sowie konkret einen Wandel von Lernkultur in der jeweiligen Schulentwicklung anzugehen.

Zunächst werden aktuelle Debatten und Anforderungen an Bildung als Ausgangspunkt und Rahmen einer zu verändernden Lernkultur angesprochen. Gerade vor dem Hintergrund der Homeschooling-Erfahrungen während der Corona-Pandemie identifizieren beide Pädagoginnen die Notwendigkeit eines „Lern- und Leistungskonzept[es], das primär auf die Lernenden selbst, deren Lernbedingungen, Innovationskraft und Ideenreichtum setzt“. Lebensweltorientiert müssten Lernanlässe aufgenommen werden, digitale Beteiligung und individuelles Lernen gefördert und damit Ungleichheit verringert werden. Die zentrale Aufgabe von Schule sehen die Autorinnen darin, demokratisches Denken und Handeln zu ermöglichen, was wiederum nur durch Beteiligung der Lernenden möglich sei. Sie stellen den historischen Wandel des Leistungsverständnisses im Kontext Schule dar und verweisen auf Kinderrechte und Inklusion.

Lohnenswert sind die Aussagen der Autorinnen zur Umsetzung lern- und entwicklungsgerechter Leistungsbeurteilung. Es wird anhand beispielhafter Erlasse unterschiedlicher Bundesländer dargestellt, dass diese sehr wohl einen Gestaltungsrahmen für beteiligende und förderliche Leistungsbeurteilung bieten – dem allerdings die Festlegung auf eine Notenvergabe entgegensteht. Kollegien, „die im Aufbau eines vielfaltgerechten Lern- und Leistungssystems ein wesentliches Gelingenselement ihrer Verantwortung für erfolgreiche Bildungsbiografien“ sehen, könnten durchaus neue Leistungsbeurteilungssysteme aufbauen. Initiativkräfte könnten dabei Impulse aus der Reformpädagogik sowie innovative Lernmodelle sein. Mit Verweis auf den Deutschen Schulpreis werden Beispiele von Schulen, die z.B. mit Lernlandkarten oder Lernentwicklungsberichten arbeiten, genannt. Die Autorinnen fordern, Reformen national und international zu beschleunigen sowie die empirische Bildungsforschung auszuweiten bzw. deren Ergebnisse den Lehrenden zugänglich zu machen.

Schulen, die eine gerechtere Leistungsbeurteilung entwickeln wollen, werden Praxisratschläge an die Hand gegeben: Die vorhandenen Spielräume in den Schulgesetzen sollten genutzt, Impulse aus anderen Schulen gesucht und, soweit sinnvoll adaptiert, Schulversuche gewagt werden; Eltern und Lernende seien zu beteiligen. Die Autorinnen stellen den Nutzen von Projektunterricht und dialogischer Lernreflexion, z.B. in Form von Bilanz- und Zielgesprächen, heraus.

Dass Silvia-Iris Beutel, Professorin für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik, und Birgit Xylander, ehemalige Schulleiterin, fundiert wissenschaftliche und praxisbezogene Perspektiven einbringen, macht die Qualität dieses Bandes aus. Ihr in der Einleitung definiertes Ziel, Mut und Interesse für Schulentwicklung zu machen, die auf einen Wandel hin zu einer gerechteren Leistungsbeurteilung abzielt, erreichen die Autorinnen mit dem kurzen Reclam-Büchlein. Schade, dass die Impulse hin zu solch einer Entwicklung nur angerissen werden. Wünschenswert wäre es, es würde nicht nur z.B. „evidenzbasierte[r] Forschung zur Notengebung“ genannt, sondern deren Ergebnisse auch kurz skizziert. Die Praxisbeispiele aus unterschiedlichen Schulen sind zwar anschaulich, werden aber nur oberflächlich angerissen. Die offene Frage ist, wie ein Schulentwicklungsprozess ganz konkret angestoßen werden kann, so dass die zu beteiligenden Teams und Gremien Mut, Diskussionen und Zeit investieren, um – sich nicht mehr auf Notenziffern zu konzentrieren, sondern – Lernorganisation, Lernkultur, Lernziele und Leistungsbeurteilung neu zu denken.

Impulse für den Wandel
Bildung und Unterricht
Stuttgart: Philipp Reclam Verlag. 2021
85 Seiten
6,00 €

ISBN 978-3-15-014201-1

Zurück