Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Stefan Schreiber / Thomas Schumacher (Hg.): Antijudaismen in der Exegese?

Die Diskussion um „Antijudaismen in der Exegese“ hat auch 70 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges angesichts der Absicht der systematischen „Endlösung der Judenfrage“ von Seiten der Nationalsozialisten seine berechtigte Relevanz. Grundlage war auch der religiöse Antijudaismus neben den Integrations-, Kontrast- und Relativierungsmodellen – besonders in der Form des populistischen Enterbungs-/Substitutionsmodells, das besagt, dass das auserwählte Volk Gottes als „Gottes-“ bzw. „Christusmörder“ schuldig geworden, verworfen und verflucht sei und die „Kirche“ an dessen Stelle getreten sei. Man beachte hierzu die sog. „Adversus-Judaeos-Literatur“ der fast zweitausendjährigen Theologiegeschichte. Infolge des durch die Schoah belasteten Verhältnisses von Juden und Christen während des Nazi-Regimes ist diese brisante Thematik im Rahmen des Themenfeldes „Kirche und Diktatur“ in den rheinland-pfälzischen und hessischen Rahmenlehrplänen katholischer Religion für die Sekundarstufe I und in den Religionsbüchern der Jahrgangstufe 10 vorgesehen.

Am 28. Oktober 1965 war die Konzilserklärung (declaratio) „Nostra Aetate“ (= NA) mit 2221 Ja- und nur 88 Neinstimmen feierlich promulgiert worden, die „sich thematisch nach außen wendet“ und speziell auf der Grundlage von Röm 9,1–11,36 nicht das Trennende, sondern vielmehr das Verbindende betont. Anlässlich des 50. Jahrestages nach ihrer Veröffentlichung kurz vor dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils stellen elf katholische Autor/innen deren bewegende und spannende Entstehung, Bedeutung und Wirkungsgeschichte im Allgemeinen aus systematischer Sicht im ersten Teil und die exegetische Rezeptionsgeschichte im Hinblick auf das „Herzstück“, NA 4, im Speziellen im zweiten Teil des Sammelbandes dar. So beleuchten sechs Exeget/innen in ihren Beiträgen ausgewählte Bibelstellen (z.B. Jes 6,8-13; Ez 33-48; Joh 8,37-47 [etwas zu kurz/verkürzend]; Apg 28,16-31; Röm 9-11 [etwas langatmig und ohne Berücksichtigung der rhetorischen Analyse!]; Phil 3,2-3; Offb 2,9; 3,9) mit Blick auf religiöse Antijudaismen in der heutigen christlichen (und somit nicht-jüdischen Exegese), um eine Diskussion um antijüdische Lesarten im Sinne einer das Judentum abwertenden Bibelauslegung anzustoßen. Dies gilt gerade für Mt 21,33-46 und für das gesamte Vierte Evangelium. Darüber hinaus empfiehlt es sich, das Kapitel „Die Juden in den Evangelien und in der Apostelgeschichte“ im nachkonziliaren Dokument der Päpstlichen Bibelkommission vom Mai 2001 „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ ergänzend zu reflektieren. Eigens zu erwähnen ist die mutige Aussage von Maria Neubrand MC und Johannes Seidel SJ, dass seitens renommierter evangelischer und katholischer Neutestamentler/innen im deutschen Sprachraum – bewusst oder unbewusst bzw. „gewollt oder ungewollt“ – weiterhin bis zum heutigen Tag „traditierte( ) Antijudaismen“ durch deren exegetische Fehlinterpretationen „(re)produziert“ werden, die sich durch eine neue Israeltheologie im Geiste von NA 4 vermeiden ließen: Die Treue Gottes ist aufgrund des Bundes zwischen Ihm und Israel unwiderruflich. Ebenfalls lesenswert sind m. E. die Beiträge von Hans Hermann Henrix zur Genese von NA und deren lehramtlicher Rezeption durch Andreas Renz.

Die Erklärung NA, die dem Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen in einer positiven Art und Weise gewidmet ist, zieht entschlossen einen Schlussstrich unter jede Form von Antijudaismus und hat so eine neue Seite im Buch der jüdisch-christlichen Beziehungen im Sinne einer kirchlichen Rück- bzw. Neubesinnung aufgeschlagen. Mit NA hat sich ein „Paradigmenwechsel“ vollzogen: Auf dieser Grundlage hat sich das Verhältnis beider abrahamitischen Weltreligionen entscheidend verbessert, wurden Vorurteile abgebaut und Feindbilder korrigiert. Aus dieser empathischen Gesinnung heraus ist eine „Judenmission“ nicht mehr denkbar. Diese „Message“ ist an die kommenden Generationen als Verkündigungsauftrag der Kirche durch Predigt und Katechese weiterzugeben, um jeglichem religiösen, rassistischen und wirtschaftlichen Antijudaismus oder gar Antisemitismus durch korrekte Reflexion des Gegen- und Miteinanders im Laufe der europäischen Geschichte zuvorzukommen. Die jüdische Religion ist im paulinischen Sinne ja als die „Wurzel“ (vgl. Röm 11,17-18) des Christentums und als „geistliches Band“ zu verstehen; alle Menschen jüdischen Glaubens sind unsere „älteren Brüder“ – so Papst Johannes Paul II. in der Großen Synagoge in Rom am 13. April 1986 – und Schwestern im Geiste. Bedenkenswert ist die derzeitige brandaktuelle Überlegung von Roman Siebenrock: „Eine Gesellschaft, in der Antisemitismus nicht bekämpft wird, ist immer in der Gefahr, die Menschenrechte grundsätzlich zu zerstören. Die Haltung einer Gesellschaft gegenüber den Juden wird so zu einem Gradmesser ihrer inneren Bereitschaft zu Pluralität und Toleranz, bzw. Achtung der Anderen.“

Der Sammelband ist gerade im Hinblick auf die Fragestellung „Kirche und Diktatur“ in den Curricula katholischer Religion für die Sekundarstufe I ein fundiertes Nachschlagewerk.

Freiburg: Herder Verlag. 2015
316 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-451-31566-4

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