Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen

Der Theologe, Psychologe und Journalist Stefan Seidel geht davon aus, dass Gott den allermeisten Menschen von heute „schlichtweg abhandengekommen“ sei. Spurenelemente des Glaubens oder auch nur des Staunens, wie sie an den Feiertagen oder im Urlaub aufkommen, sollten darüber nicht hinwegtäuschen. Über diese Annahme ließe sich trefflich disputieren, vermutlich trifft sie zuvorderst auf den spätmodernen, seinen spirituellen Quellen entfremdeten „Westen“ zu. Davon abgesehen lag es für den leitenden Redakteur der Leipziger Wochenzeitung „DER SONNTAG“ nahe, mit Zeitgenossen ins Gespräch zu kommen, die etwas von Gott, von ihren Erfahrungen mit Ihm, zu berichten wissen. Neunzehn Gespräche sind in dem Band versammelt, Glaubensweisen bekannter Persönlichkeiten wie der Autorin Marica Bodrožić, des Lyrikers Christian Lehnert oder des tschechischen Theologen und Priesters Tomáš Halík genauso wie Gott-Gedanken von Intellektuellen, die dem Verfasser dieser Zeilen bisher unbekannt waren.

„Heute denke ich“, so die Schriftstellerin Iris Wolff („Die Unschärfe der Welt“) mit Blick auf ihre Kindheit im Pfarrhaus, zu der auch der selbstverständliche Umgang mit biblischen Gestalten gehörte, „dass mir dadurch zwei Dinge früh deutlich wurden: die Zeichenhaftigkeit der Welt, und dass mein Leben ohne den Bezug auf etwas Größeres unvollständig ist.“ Der Satz lässt sich als eine Quintessenz nicht nur dieses Glaubensweges lesen. Denn „Transzendenz“ kann man auch damit erklären, dass dem Gottsucher die Welt „nicht genug“ ist. So streckt er sich aus nach Zeichen, die auf ein „Mehr“ verweisen, hält Ausschau nach dem, was ihm fehlt. Auch für Christian Lehnert geht es darum, nicht „fertig“ zu sein mit dieser Welt, sich gerade mit befremdlichen Erfahrungen anzufreunden, die ihre Schätze, „das Andere“, nach und nach enthüllen. Der Dichter berichtet von seiner jugendlichen Begegnung mit Versen von Johannes Bobrowski, die er zigfach liest, aber kaum versteht. Gleichwohl: „Mittler ohne Botschaft waren sie, Auslöser für das plötzliche Gefühl, in mir nicht zu Hause zu sein. Eine ‚Stimme / wo keine Frage war‘.“ So beginnen spirituelle Karrieren, die Subjektives und Tastendes genauso umgreifen wie Trost und Sorglosigkeit. Dass man Gott niemals „hat“, ist selbstverständlich: „Das gehört zu unserer Existenzform in Zeit und Raum.“ (Lehnert)

Auf eine anregende Weise als „anstößig“ erweist sich das Gespräch mit der in New York lehrenden koreanischen Theologin Tara Hyuan Kyung Chung, die angesichts einer Welt voller Unterdrückung und Unfreiheit die „abstrakte“ Theologie als defizitär betrachtet. Es sind vor allem Erfahrungen, auch die von Existenzbrüchen, die für sie den lebendigen, sich „ereignenden“ Gott bezeugen. Chung berichtet sehr explizit von dramatischen Ereignissen in ihrem Leben, die ihr dennoch das „Große Unbekannte“ und das „Nichtwissen“ als einen lebendigen, ja sicheren Ort vermittelten. Mit Verweis auf den afroamerikanischen Mystiker Howard Thurman spricht sie von einer Spiritualität des „Was-dich-lebendig-macht“. An dieser nur scheinbar banalen Losung werde sich „die Richtung des Glaubens der jungen Menschen im 21. Jahrhundert“ zu bewähren haben.

Man könnte meinen, dass die Abkehr von der „Abstraktion“ dieser koreanischen Grenzgängerin und die Reflexionen des 1926 geborenen evangelischen Systematikers Jürgen Moltmann nicht anders als konträr ausfallen können. Und dennoch: Auch Moltmanns epochale „Theologie der Hoffnung“ wurzelt in dramatischen Ereignissen; im Elend des Zweiten Weltkrieges, der dem bürgerlichen Humanismus mit seinen Leitsternen „Goethe und Schiller“ Hohn sprach. Die Erfahrungen von Bombennächten und Kriegsgefangenschaft beförderten keinen Nihilismus: „Der mörderische Krieg war für mich keine Widerlegung Gottes, sondern eine Widerlegung der Menschlichkeit des Menschen.“ Die christliche Antwort führte Moltmann zu dem leidenden Christus genauso wie zu Ostern. Eine Hoffnungsspur, die sich alltäglich bewähren müsse – und das nicht nur in Gedanken. Der Theologe spricht mit Hannah Arendt von der „Natalität“, von den beständigen Anfängen in unserem Leben, von Abenteuern der Freiheit und der Liebe. Diese Anfänge finden eine österliche Vollendung: „Die neue Erde wird neu in einem ungeahnten Ausmaß sein. Aber alle Lebewesen sind auf Hoffnung hin geschaffen und keines geht verloren.“ Solche starken, hoffnungsgesättigten Sätze sind in dem Gesprächsband an vielen Stellen zu finden. Der Leser nimmt sie dankbar entgegen, denn sie sind in Lebensgeschichten eingebunden, die gerade in ihrer Buntheit davon zeugen, dass es sich lohnt, das „Gottesgerücht“ (Paul Zulehner) wachzuhalten.

München: Claudius Verlag. 2022
295 Seiten m. s-w Abb.
26,00 €
ISBN 978-3-532-62880-5

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