Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt. Roman

Versalzene Seelen!

„Oben an der Decke flog eine winzige Motte gegen die Neonröhren, sie raste ins Licht, immer und immer wieder, prallte ab und fiel irgendwann tot auf uns herab.“ Nach ihrem Romandebüt „Tigermilch“ erzählt Stefanie de Velasco mit ihrem neuen Roman die Geschichte von Esther, die kurz nach der Wende mit ihren Eltern unfreiwillig nach Ostdeutschland, der ursprünglichen Heimat ihres Vaters, zieht, um dort für Jehova Menschen zu fischen. Wie die Autorin selbst wächst Esther in einer Zeugen Jehovas-Familie auf: Gottkonformes Verhalten, extensives „Bibelstudium“, das sie zu wissensakrobatischen Höchstleistungen treibt – Bibelwissen abfragen zählt zu den Lieblingsbeschäftigungen am familiären Abendtisch –, kaum Kontakte zu den „Weltmenschen“, kein weltliches Engagement und überall im Hintergrund lauert der große Verführer Satan, der verhindern will, dass man am Tag des Weltuntergangs (Harmagedon) auf der richtigen Seite steht.

Die Fassade der vermeintlich heiligen und reinen Welt, in der Esther sich fragt, „ob Mutter jemals einen Milchfleck auf ihrer Kleidung hatte“, beginnt mit Sulamith, der besten Freundin von Esther, zu bröckeln. Sulamith, die mit ihrer Mutter aus Rumänien floh und im Ankunftslager von den Zeugen Jehovas angeworben und versorgt wurde, verliebt sich in den „Weltmenschen“ Daniel. „Wie war es möglich, dass ein Weltmensch wie Daniel glücklich war, obwohl er im Reich Satans lebte?“ Sulamiths tragisches Ende, kurz vor dem Umzug der Familie in die ehemalige DDR, ist Esthers Anfang ihrer Entfremdung von der pseudoidealen Welt der Zeugen. Doch leicht fällt ihr das alles nicht. Zu wirkmächtig nagt der Vorwurf, satanische und dämonische Einflüsse würden ihren Zweifel begünstigen. Noch schlimmer: Der drohende Gemeinschaftsentzug hängt wie ein Damoklesschwert über allem. Wo soll sie hingehen, an wen sich wenden? Zum Glück gibt es den verstoßenen, weil abtrünnig gewordenen Onkel, der sich über die „Jehovamuskeln“ lustig macht, die allen Zeugen vom ununterbrochenen Grinsen wüchsen, und eine Schulfreundin, die ihr letztlich hilft.

Stefanie de Velasco geht sehr behutsam vor. Sie zeichnet keine Schwarz-Weiß-Welt: hier die böse Sekte, dort die gute Welt. Das ermöglicht ihr, den Leser in die Abläufe und Gespräche der Gemeinschaft hineinzunehmen und ihm zu verstehen zu geben, weshalb die Gemeinschaft letztlich einen gutgemeinten Totalitarismus darstellt. Der Verweis auf die höhere Wahrheit, der man sich zu unterwerfen habe, macht vieles möglich. Die Mutter, von Velasco wunderbar als stramme Ideologin gezeichnet, ist liebevoll und fürsorglich – aber eben nur, solange sich das Verhalten doktrinkonform zeigt. Cola, ein Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, die sich in Ostdeutschland der Gemeinschaft annähert, beteuert Esther gegenüber einmal, dass ihre Mutter sie wirklich liebe, worauf Esther antwortet: „Es ist keine Liebe“. Hier liegt Velascos Kerngedanke: Die einzige Wahrheit für Esther bestand letztlich in der Freundschaft zu Sulamith. Nur innerhalb dieser Freundschaft war sie so anerkannt, wie sie war. Alles andere ist für Esther ein perfekt orchestriertes, tragisches Theaterstück, in dem sie „halb Kind, halb alte Frau“ bleibt. Tragisch deshalb, weil die Zeugen wirklich davon überzeugt sind, Gutes zu tun. Tragisch auch, weil, unter ideologischen Voraussetzungen, soziale und materielle Sicherheit dort durchaus gewährleistet wird. So kommt Cola beispielsweise durch die Zeugen von ihrem gewalttätigen Vater los, der sie in verwahrlosten Zuständen hat leben lassen.

Es verwundert nicht, dass Esther letztlich den Glauben und die biblischen Geschichten unter diesen Vorzeichen ablehnen muss, um von dem Gott loszukommen, der ihr Leben zerstört, weil seine Wahrheit unfrei statt frei macht. Am Ende bleibt Sulamiths Frage als metaphysischer Stachel zurück, auf den Esther keine Antwort (mehr) hat: „Wir sind wie Öfen (…), wir brennen, aber wofür?“ Bei Esther hinterließ die Antwort der Zeugen eine „versalzene Seele“.

Absolut lesenswert!

Köln: Kiepenheuer & Witsch Verlag. 2019
432 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-462-05043-1

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