Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Stephan Goertz / Caroline Witting (Hg.): Amoris laetitia – Wendepunkt für die Moraltheologie?

Die Zahl der Stimmen, die in den letzten drei Jahren zum Nachsynodalen Apostolischen Schreiben von Papst Franziskus „Amoris laetitia“ (AL) zu hören waren, sind ungezählt. Selten hat in jüngerer Vergangenheit ein päpstliches Dokument für so viel Aufmerksamkeit gesorgt wie das Schreiben des Papstes „Über die Liebe in der Familie“. Dies liegt zweifelsohne nicht nur an der Brisanz des Themas: Ehe, Familie, Sexualität, Fragen des Umgangs mit wiederverheiratet Geschiedenen und Suche nach konkreten pastoralen Hilfestellungen angesichts zunehmend pluriformer Lebensbeziehungen. Außerdem lässt der neue Ton des Apostolischen Schreibens aufhorchen, der weniger direkt oder normativ als vielmehr eine subjekt- und situationsorientierte Perspektive in die ethische Bewertung einführt.

Aus den vielen Stimmen zu AL verdient die im Jahr 2016 herausgegebene Publikation von Stephan Goertz und Caroline Witting besondere Aufmerksamkeit. In Form von zehn thematisch gut strukturierten und inhaltlich ausgewogenen Beiträgen werden auf rund 330 Seiten unterschiedliche Zugangswege zum Verständnis von AL aufgezeigt. Dabei überzeugt nicht nur die durchweg hohe Differenzierung mit der Auslegung, Geltungsanspruch und praktische Konkretionen, sondern dass immer wieder auch eine wirkgeschichtliche Einordnung von AL in das Gesamt lehramtlicher Aussagen vorgenommen wird. Einen bleibenden Eindruck hinterlassen die von den Herausgebern eingangs vermittelten Ausführungen zum Kontext, zur Rezeption und zur pastoralen Verortung von AL, die zu Recht als hermeneutischer Schlüssel für die gesamte Publikation verstanden werden können.

Die zehn Beiträge des Sammelbandes zeichnen sich durch in sich geschlossene thematische Schwerpunktsetzungen aus, die einander ergänzen, unterschiedliche Facetten des nachsynodalen Schreibens beleuchten und dabei nur selten zu Überlagerungen führen. Theologisches Wissen wird sprachlich und inhaltlich anschaulich präsentiert und ermöglicht es dem Leser, die oft feinen Nuancen des päpstlichen Schreibens in dem, was explizit formuliert oder im Vergleich zu vorausgehenden lehramtlichen Dokumenten eine veränderte Rezeption erfährt, einzuordnen. Dazu leisten tabellarische Übersichten und vergleichende Zusammenstellungen von Textbausteinen einen wesentlichen Beitrag.

Grundlegend folgen die Beiträge einem weiten und offenen Deutungsverständnis und vermitteln eine sehr ausgewogene Bewertung des päpstlichen Schreibens. Weniger eine Revolution der Moraltheologie auf Betreiben des päpstlichen Lehramtes als ein dynamischer Progress, eine lebendige Fortschreibung katholischer Lehre wird festgestellt – eine „Kontinuität im Wandel“, die weder ein weltfremdes an bloßer Normobservanz orientiertes Moralsystem lehrt noch einen Subjektivismus, der mit einer De-facto-Nivellierung ethischer und moralischer Ansprüche einhergeht. Keine Kasuistik und keine Ethik der Beliebigkeit prägen AL, sondern eine die Vielfalt menschlicher Beziehungen wertschätzende Lehre verbunden mit einer Sensorik für das pastoral Erforderliche im Umgang mit ganz konkreten Menschen in ganz konkreten Situationen. Dies zeugt von einer (neu gewonnenen) Lebensnähe und einer Grundhaltung, die nicht verurteilt, sondern zu einem kritisch reflektierten Urteil anleitet, das den Menschen in der Vielfalt aktueller sozialer Lebensformen in Partnerschaft und Familie gerecht zu werden sucht. Als „neue, systematische und praxisrelevante Vertiefung des Verständnisses von Liebe, Ehe und Familie“ (113) zeigt AL Wege individueller Gewissensbildung für die Gestaltung des individuellen Lebens in Ehe und Familie wie auch einer lebensdienlichen Begleitung durch die verfasste Institution Kirche, bei der Orientierung, Partizipation und Emanzipation im Sinne des Gewissensurteils keine Gegensätze darstellen.

Die Publikation von Goertz und Witting leistet einen wichtigen Beitrag zu einem ausgewogenen und vor allem produktiven Verständnis von AL und belebt das Bewusstsein für die Aufgabe der Moraltheologie als Wissenschaft im Dienst am Menschen.

Freiburg: Herder Verlag. 2016
338 Seiten
24,99 €
ISBN 978-3-451-37820-1

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