Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Terry Eagleton: Opfer

Einer in dieser Hinsicht zutreffenden Rezension im Feuilleton einer großen deutschen Tageszeitung zufolge geht es dem britischen Literaturwissenschaftler Terry Eagleton, der eine Professur für Englische Literatur an der Lancaster University innehat, in seinem hier angezeigten Buch um die Suche nach einem Übergang von einem katholisch geprägten Christentum zu einem unorthodoxen Marxismus. Das neueste Werk des Autors zahlreicher, auch in deutschen Verlagen veröffentlichter Publikationen erschien in englischer Sprache im Jahr 2018 und in seiner deutschen Übersetzung zwei Jahre später im Wiener Promedia-Verlag. Möglicherweise kein amüsanter Zufall, denn im Jahr 2018 gab der 200. Geburtstag von Karl Marx Anlass zu einer Flut zahlreicher Veröffentlichungen und noch zahlreicherer Veranstaltungen zu Leben und Werk des berühmten Mannes. Ein weniger großes, aber dennoch erhebliches Interesse fand 2020 der ebenfalls 200. Geburtstag seines Mitstreiters Friedrich Engels, der für Marx weit mehr als nur Freund und Finanzier war, sondern erhebliche eigene Beiträge zu den Grundlagen des marxistischen Denkens beisteuerte.

Schien durch die politischen Umwälzungen des Jahres 1990 die Ideenwelt von Marx und Engels zumindest aus europäisch-nordamerikanischer Sicht ein für alle Mal erledigt, so meldeten sich mit der Jahrtausendwende unter dem Eindruck neuer politischer, sozialer und ökonomischer Verwerfungen wieder vermehrt Stimmen, denen zufolge die Gesellschafts- und Wirtschaftsformen, die Marx mit dem Begriff des Kapitalismus bezeichnet hatte, nicht unbedingt das letzte Wort in der Geschichte sein müssen.

In diesem Zusammenhang erweckt das neue Buch des Autors Interesse, denn der Marxist Eagleton stammt aus einem katholischen Milieu. Er besuchte als Kind eine Klosterschule in Manchester und gehörte in jüngeren Jahren der linkskatholischen Bewegung Großbritanniens an. Er, der selbst auch auf dem Gebiet der katholischen Theologie publizierte, blieb diesen biographischen Wurzeln stets treu.

Von daher dürfte es die Aufmerksamkeit des heutigen katholischen Lesers finden, wenn Eagleton in der Einleitung zu seinem Buch die weitgehende Ignoranz geißelt, mit der politisch links orientierte Zeitgenossen dem Erbe der christlichen und speziell der katholischen Theologie und Glaubenslehre gegenüberstehen. Er resümiert: „Im Bereich der Theologie laufen selbst die subtilsten säkularen Denker Gefahr, in einen Sumpf aus Klischees und Missverständnissen zu stolpern.“ (7) Wenn in der Folge Eagleton den Versuch unternimmt, den katholischen Glauben und einen unorthodoxen Marxismus in eine produktive Verbindung zu bringen, dann tut der Autor dies nicht durch einen stetigen Bezug auf konkrete soziale, ökonomische, politische, kulturelle und ökologische Konflikte der Gegenwart. Sein Zugang zu seinem Thema ist vielmehr ein geistes- und religionswissenschaftlich orientierter Diskurs entlang eines Themas, nämlich dem des „Opfers“.

Nachdem er verdeutlicht, dass in der Gegenwart die Idee von einer positiv und produktiv zu denkenden Wirksamkeit des Opfers unmodern geworden ist, nicht mehr verstanden und als anachronistisch abgelehnt wird, entfaltet er eine anspruchsvolle Darstellung, an dessen Beginn das Opfer Jesu am Kreuz steht und an dessen Ende er – Marx und Engels aus einer ihrer Frühschriften zitierend – auf das Proletariat hinweist, das Opfer der kapitalistischen Wirklichkeit, das er als „einen Skandal […], ein Dilemma und ein Rätsel“ (160) bezeichnet. Eine Charakterisierung, die sich so oder ähnlich auch in christologischer Literatur über den Gottessohn Jesus finden dürfte.

Der Autor weist mit dieser Verbindung des von den Herrschenden gemarterten Gottessohnes und des gemarterten einfachen Volks, auf der sozialen Stufenleiter unten stehend, nicht allein auf die Wirklichkeit krasser Willkür und Ungerechtigkeit hin, damals und heute. Es geht ihm in seinem Werk mehr noch um die von ihm wahrgenommene Tatsache, dass das Opfer die lebendige Wirklichkeit wandelt. So wie das Opfer und die Auferstehung Jesu die Welt umwälzte, so denkt er sich offenbar das moderne Proletariat als ein Subjekt, das durch sein Opfer und seine Rebellion die Welt neu machen kann. Eine gewaltige Perspektive, die auch Marx und Engels vorschwebte, über deren Verwirklichung Eagleton sich in seinem Buch aber nicht näher äußert.

Dem Grundgedanken, dass das Opfer eine notwendige Voraussetzung für eine Weiterentwicklung in ein positiv gedachtes Neues hinein ist, auch im Leben des einzelnen Menschen, geht Eagleton im Rahmen eines durch seine Belesenheit beeindruckenden Rundgangs durch die Geistes-, Philosophie- und Religionsgeschichte von der Antike bis heute nach. Das dürfte für manchen Leser zunächst keine leichte Kost sein, es sei denn, dass er Eagletons Darstellung zum Anlass nimmt, sich in die reiche Literatur, die sorgfältig in Anmerkungen nachgewiesen wird, einzuarbeiten.

Angesichts der problematischen Erfahrungen, die die Menschheit im 20. Jahrhundert mit einer Verbindung von Politik mit dem Gedanken des Opfers gemacht hat, fehlt in dem grundsätzlich zu empfehlenden Werk der Hinweis auf die Gefahren und den Missbrauch, die mit einer solchen Verknüpfung verbunden sein können.

Selbsthingabe und Befreiung

Aus dem Englischen von Stefan Kraft
Wien: Promedia Verlag. 2020
176 Seiten
19,90 €
ISBN 978-3-85371-465-2

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