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Thomas Alexander Szlezák: Platon

Thomas A. Szlezák, international renommierter Platon-Kenner, weist in seiner neuesten, ebenso voluminösen wie kenntnisreichen Studie nach: Platon will zur klaren Welt des Geistes und der Ideen emporsteigen. Sein berühmtes „Höhlengleichnis“ in der Politeia zeigt es: Ohne Ab- und Umkehr, metanoia, gibt es kein Verhältnis zur Wahrheit. Die Wahrheit aber gilt es zu erkennen. Sie ist das eigentliche Ziel und die Erfüllung des menschlichen Lebens. Es geht darum, den Weg aus der dunklen Höhle zu finden, den Aufstieg aus der Schattenwelt ins Licht zu wagen.

Erkenntnis und Leben, Wahrheit und Interesse gehören nach Platon zusammen. Zugegeben: Den Standpunkt des Protagoras, der Mensch sei das Maß aller Dinge, teilte er in letzter, d.h. ontologischer Konsequenz nicht. Dennoch war für Platon die Erkenntnis der Wahrheit nicht freischwebend. Sie hat einen Träger. Sie ist gebunden an die Person, den Erkennenden. Deutlich wird das auch an der Frage, die Platons Lehrer umtrieb: Was ist sittlich gutes Handeln? Platon greift die Frage des Sokrates auf und diskutiert sie in vergleichbarer Weise. Gleichwohl ist für Szlezák Sokrates eher eine „Schöpfung Platons“ als bloß eine historische Figur, jedenfalls eine Figur, die nach Wahrheit strebte und dabei auf ihre eigene innere Stimme, den daimonion, hörte.

Der Glaube kommt vom Hören! Das steht nicht nur im Neuen Testament (vgl. Röm 10,17), das wusste schon Platon. Der Mensch ist vor allem ein Hörender. Nicht durch Erfahrung, nicht durch die Anstrengung des Begriffs, sondern durch das Offensein für das Sein, für das Vernehmen des Seienden, kurz, vor allem hörend – ex akoäs – wird er der Wahrheit jener aus göttlichem Urgrund stammenden Rede teilhaftig.

Es geht darum, das Richtige, das Wahre zu erkennen, und das als wahr Erkannte dann zu bejahen, zu wollen und zu tun: Das Wahre ist das Gute, bonum. Mit anderen Worten: Der Mensch handelt nicht dadurch schon allein sittlich gut, dass er faktisch richtig handelt, dass er also seine Pflicht erfüllt und nichts tut, was der Gesetzgeber verbietet und die Gesetzeshüter, die Polizei, auf den Plan ruft. Es geht nach Platon nicht darum, dass der Mensch nur faktisch, sondern dass er grundsätzlich sittlich handelt. Es gilt die Maxime: „Lieber Unrecht leiden als Unrecht tun.“ (Platon, Gorgias 469c)

Nicht die Werke machen den Menschen gut, sondern der Mensch, der gut ist, d.h. der angetan und erfüllt ist von der „Idee des Guten“, idea tou agathou, der handelt gut. Das sittlich gute Handeln wird nicht durch die Tat gut, sondern durch das, wovon der Handelnde erfüllt ist. Erfüllt vom Guten wird der Mensch erst Mensch, verhält er sich menschlich, human. Es gilt, sich von der Idee des Guten durchdringen zu lassen, ja geradezu ergriffen zu sein und sich so zu öffnen für andere Menschen und für das Göttliche. Der platonische Eros kommt ins Spiel. Er treibt den Menschen von der Liebe zu immer gesteigerten Gestalten und Formen bis zur Erkenntnis der Wahrheit, der Idee der Ideen.

Insofern ist es vollkommen richtig zu sagen, dass es nicht reicht, allein die dialogische Form der platonischen Äußerung zu interpretieren. Die platonischen Figuren in diesen Dialogen müssen mitbedacht werden, will man das Gesagte in diesen Dialogen recht verstehen. Wahrheit, Lüge und Irrtum, Hoffen und Bangen, Glauben und Lieben habe nicht nur eine zwischenmenschliche Dimension, sondern ein personales Fundament. Nicht von ungefähr artikuliert Platon dezidiert seine Schriftkritik, woraus deutlich wird, dass das Haus der Wahrheit nicht in der Schriftlichkeit, syngramma, zu finden ist. „Denn die Öffentlichkeit der Schriftkultur kann niemals die Bedingungen gewährleisten, unter denen die gesuchte Erkenntnis hervorleuchtet.“ (188)

So setzt das Buch neue Akzente in der Platonforschung. Sorgfältig wird die Person des Platon untersucht, einzelne Phasen seiner Vita werden ausgeleuchtet und erscheinen in einem neuen Licht. Überdies werden seine Werke vorgestellt und in Korrespondenz zu seinen Lebensabschnitten gestellt. Die Chronologie der platonischen Schriften wird kritisch geprüft und eine Hermeneutik des platonischen Dialogs erarbeitet. Im dritten und ausführlichsten Teil kommt schließlich das Denken Platons zu Wort: seine „Philosophie der Philosophie“, seine Anthropologie mit Psychologie und Ethik, seine „Philosophie der staatlichen Gemeinschaft“, seine spezifische Kosmologie und vor allem „die Entdeckung der Idee“, seine Prinzipienlehre und sein Verhältnis zu Gott und den Göttern, seine Frömmigkeit.

Sämtliche Themata sind miteinander vernetzt, greifen ineinander, dürfen nicht getrennt, sondern müssen aufeinander bezogen werden. Es ist wie mit dem seit Aristoteles beliebten Vorwurf, Platon schaffe eine doppelte Welt. Er trenne die Welt der Ideen von der Welt des Sichtbaren und rede zumindest erkenntnistheoretisch einem Dualismus das Wort. Nietzsche sah sich sogar veranlasst, von einer konstruierten „Hinterwelt“ zu sprechen, und bezeichnete Platon und die Seinen als „Hinterweltler“, der uns letztlich zu „Hinterwäldlern“ degradiere.

Dem Autor gelingt es, durch sorgfältige Vita- und Werkanalyse, vor allem aber durch eine ebenso sensible wie subtile Einbeziehung der antiken Zeugnisse zu Platons Theorie der Prinzipien, das Gegenteil darzulegen: Platon ist alles andere als der Vertreter, geschweige denn „der Erfinder“ eines epistemologischen oder gar ontologischen Dualismus. Ihm geht es stets um das Ganze, um die Wirklichkeit insgesamt, um die Erkenntnis von Zusammenhängen und Vernetzungen, um Überblick und Orientierung. Er bleibt nicht bei einer bloßen Entgegensetzung von Ideenwelt und Sinnenwelt stehen. Er präsentiert vielmehr eine differenzierte Ontologie, in der zwar verschiedene Seinsebenen sorgfältig unterschieden, aber nicht getrennt werden. Die höheren durchdringen die niederen, nehmen diese auf und an, während die niederen in ihrem Seinssinn von den höheren bestimmt werden und auf diese verweisen.

Im Anhang kommt der Autor noch einmal auf den Siebten Brief und auf Platons Ironie zu sprechen. Dem Autor gelingt es, allen Argumenten gegen die Echtheit dieses Briefes zu widersprechen. Sie ziehen letztlich nicht und werden so peu à peu plausibel entkräftet. Die Ironie bei Platon wird gesondert untersucht. Sie erweist sich als „Darstellungsmittel von beschränkter Bedeutung und Funktion“ (625). Bei seinen Überlegungen zu den Eschata und seinem Glauben an das Gute schlechthin fehlt sie völlig. Hier zeigt sich vielmehr die Frömmigkeit des Denkens.

Meisterdenker der Antike
München: C.H. Beck Verlag. 2021
779 Seiten
38,00 €
ISBN 9783406765261

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