Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Bauer: Warum es kein islamisches Mittelalter gab

Das kleine im C.H. Beck-Verlag erschienene Buch ist im Kontext der von Thomas Bauer bereits 2011 vorgelegten größeren Studie „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ (Insel Verlag) zu lesen. Anders als diese findet sich hier keine systematische Konstruktion einer Kulturtheorie, sondern eine eher episodenhaft um den Begriff des „islamischen Mittelalters“ kreisende Infragestellung unserer gewohnten Wahrnehmungen der Kulturen des Orients in den Jahrhunderten zwischen Spätantike und Moderne. Dies enthebt die Sache ihrer begrifflichen Schwere und stärkt die Lesefreude, zumal der Autor durchaus pointiert formulieren kann und viele gelungene Spitzen gegen unser eigenes kulturelles Selbstverständnis setzt. Wem das Freude macht, der sollte im Anschluss dessen zeitgleich erschienenen Band „Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ (Reclam Verlag) lesen.

In wie weit ist nun die in Betrachtung genommene Periode als „islamische“ Zeit zu bezeichnen? Die gesellschaftlichen Entwicklungen – von der Bäderkultur bis zur Urbanität und zur Kultur des Zusammenlebens mit Menschen anderer Herkunft und Religion – blieben unter den arabischen Herrschern bis ins 11. Jahrhundert weitgehend das, was sie unter den oströmischen und persisch-sassanidischen Herrschern gewesen waren. Ebenso blieb die multi-ethnische wie multi-religiöse scientific community in Medizin und Wissenschaften erhalten und dem Wissenschaftsbegriff der griechisch-römischen Spätantike verpflichtet – und nicht etwa religiös deduzierten „islamischen“ Regeln. In der englischsprachigen Forschung setzt sich daher mittlerweile der Begriff islamicate societies durch, um die Kontinuität spätantiker Kultur- und Gesellschaftspolitik unter der Herrschaft von Muslimen zu bezeichnen, die durch wesentlich weniger Eingriff religiöser Ideen und Institutionen gekennzeichnet war als das zeitgleiche „christliche“ West- und Mitteleuropa. Da dort die spätantike Tradition zwischen dem 5. und 9. Jahrhundert abbricht, lässt sich fragen, so Bauer, ob beide Hemisphären in dieser Zeit überhaupt in der gleichen Epoche gelebt hätten. Diese These wird im zweiten Kapitel „Orient und Okzident im Vergleich: Von Analphabetismus bis Ziffern“ in 26 kurzen Skizzen lustvoll und gut lesbar ausgewalzt.

Aber Thomas Bauer wäre nicht er selbst, wenn es nicht in diesem Buch bald um das große Ganze ginge: die Dekonstruktion des „Mittelalter“-Begriffs (Kap. 3: „Auf der Suche nach dem ganzen Bild“). Nun übersteigt es sowohl den Rahmen dieser Rezension als auch das Fachwissen des Rezensenten, diese komplexe Diskussion für die allgemeinen Geschichtswissenschaften darzustellen, sehr wohl aber lassen sich ihre Auswirkungen auf die Islamwissenschaft an dieser Stelle beschreiben. Bauer übernimmt die von Almut Höfert (Kaisertum und Kalifat, Frankfurt 2015) aufgestellte und mittlerweile heiß diskutierte These, dass die Omayyaden- und Abbasidenkalifen bis zum 11. Jahrhundert nicht nur die spätantike Bildungs- und Gesellschaftskultur weiterlaufen ließen (s.o.), sondern bewusst deren Reichsideen und Herrscherbilder übernahmen. Mit dem von Höfert so bezeichneten „imperialen Monotheismus“ führten die Kalifen die Reichs- und Religionspolitik der spätantiken Reiche der persischen Sassaniden und der oströmischen Kaiser zu veränderten Bedingungen weiter. Der Islam und die Arabizität treten als unterscheidende Propria der neuen Herrschaft zur spätantiken Reichskultur hinzu, der Faktor „Kontinuität der Verhältnisse“ ist dabei aber wesentlich stärker ausgeprägt als der Faktor „radikaler Umsturz“. Im Hintergrund der These von Höfert steht eine mittlerweile gut etablierte Forschungsrichtung, die sich in den vergangenen Jahrzehnten leise von der Vision verabschiedet hat, die arabische Herrschaft als eine von tribalen Kriegereliten aus der Wüste inszenierte „islamisierende“ Gegenkultur zur spätantiken Völkergemeinschaft sehen zu wollen. Bauer zeigt hier gekonnt die Projektionslinien von Fremd- und Eigenbeschreibungen auf, die nicht nur in Europa, sondern auch im Orient diese ältere Sichtweise lange befördert haben.

Lässt sich bis hierhin die Zustimmung eines breiteren Stroms innerhalb der Fachwissenschaft erwarten, so dürfte der Streit um die von Bauer im Anschluss vorgetragene neue Periodisierung der Weltgeschichte entbrennen. Hier geht er auf die Arbeit von Garth Fowden (Before and After Muhammad. The First Millenium Refocused, Princeton 2014) zurück, die allerdings sehr kontrovers diskutiert wird. In groben Zügen geht es Fowden darum, den griechisch-römischen Mittelmeerraum, Mesopotamien und das persische Reich bis zum Hindukusch, die arabische Halbinsel sowie die nubischen und äthiopischen Kulturen Nordostafrikas unter eine gemeinsame Betrachtung zu stellen („the Eurasian hinge“). Ein wichtiger Beitrag von Fowden ist sicherlich, dass er dabei das sassanidische Perserreich als Teil der spätantiken Kulturen angemessen würdigt. Aus den bereits oben angeführten Gründen nimmt Fowden für den Eurasian hinge dann eine umstrittene Periodisierung vor, die zwischen dem 3. und dem 11. Jahrhundert in Kontinuität „spätantiker“ politischer und gesellschaftlicher Strukturen verläuft.

Bauer weist im Anschluss an Fowden darauf hin, dass in dieser Zeit lediglich West- und Mitteleuropa die spätantike Prägung ihrer Kultur verlieren. Das „Frühmittelalter“ sei daher eine europäische Besonderheit, der Begriff tauge wenig für die Beschreibung des wesentlich bedeutenderen „Rests“ der Welt in diesen Jahrhunderten. Erst für das 11./12. Jahrhundert lasse sich mit dem Niedergang des fatimidischen Kalifats in Kairo und des omayyadischen Kalifats in Andalusien, mit der Einwanderung von Turk-Völkern nach Anatolien und der kulturellen Ostverschiebung „islamischer“ (i.S.v. islamicate) Kultur und Wissenschaft nach Persien, eine Entwicklung aufzeigen, die mit spätantiken Parametern nicht mehr zu vermessen sei. Die einsetzende neue Entwicklung stoppe aber nicht abrupt am Ende der Mamelukenzeit (1517), sondern werde in die spätere Osmanen-Herrschaft weitergetragen, so dass sich kein sauberer terminus post quem für den Einsatz einer „Neuzeit“ im 15. oder 16. Jahrhundert ergibt. So ließen sich aus der Geschichte der islamicate societies Argumente für die Diskussion um den europäischen Mittelalter-Begriff beitragen, dessen hintere Epochengrenze in Abgrenzung zur Renaissance und frühen Neuzeit in der westlichen Geschichtswissenschaft zunehmend kritisch gesehen werde.

Diese beiden streitbaren Thesen von Bauer – die Verlängerung der Spätantike bis zum 11. Jahrhundert und in der Folge die komplette Erledigung des Mittelalter-Begriffes – werden mit Sicherheit wieder eine lustvolle fachliche Auseinandersetzung auslösen. Allein deswegen schon lohnt sich die Lektüre des gut lesbaren Buches, um für die zu erwartende Fachdiskussion gewappnet zu sein.

Das Erbe der Antike und der Orient
München: C.H. Beck Verlag. 2018
175 Seiten m. farb. Abb.
22,95 €
ISBN 978-3-406-72730-6

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