Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Brose: Kein Himmel über Berlin?

Glaube in der Metropole
Mit einem Geleitwort von Weihbischof Matthias Heinrich und einem Nachwort von Felicitas Hoppe

„Es war zu keiner Zeit einfach, von Gott zu sprechen, aber in Berlin scheint es besonders schwer zu sein“. Warum das Sprechen von Gott und das Leben mit Gott sich in Berlin als besonders schwer gestaltet, wird von Thomas Brose aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und mit historischen wie sozio-kulturellen Beispielen angegangen. Er unternimmt somit den interessanten Versuch, eine geistige, politische, theologisch-kirchliche Topographie von Berlin für das Christsein in ganz Deutschland zu zeichnen. Seine Zeichnung ist voller Fragen, die den Leser während und nach der Lektüre bewegen und begleiten: Kann Glaube nur in idyllischer Atmosphäre gedeihen oder kann die Weite der Großstadt neue Räume der Gotteserfahrung bieten? Ist es nicht gerade die Herausforderung des modernen Christentums, das Heilige im Weltlichen zu suchen? Fragen nicht gerade die Zerrissenheit, die Anonymität und die Schnelllebigkeit der Großstadt nach den barmherzigen Händen Gottes? Sehnt sich der Lärm der Urbanität nicht nach Orten der Stille? Inwiefern unterscheidet sich die Berliner Diaspora von anderen Orten der Zerstreuung? Warum erscheinen Katholiken in Berlin als „doppelt fremd“?

„Religion und Großstadtleben sind aufs Engste miteinander verknüpft“. Kritisch widmet sich Brose der Annahme, dass ländliche Idylle mit Glauben assoziiert, ja oftmals sogar gleichgesetzt wird. Schaut man jedoch zurück in die Geschichte, ist es gerade die Stadt, die zum Lebens- und Verkündigungsraum der ersten Christen wurde. Man nehme die Missionierung von Damaskus, Rom, Ephesus und Antiochien durch Paulus und stelle fest, dass das Christentum ein Großstadtkind bzw. eine Stadtreligion war. Ferner sind Glaube, Gott und Stadt nicht nur historisch, sondern auch architektonisch miteinander verbunden: So zeigen nicht nur die Grundrisse von Paris, Köln, Straßburg, dass Hauptkirche, Dom und Kathedrale deren spirituellen Konzentrationspunkt und urbanen Mittelpunkt bilden. Auch das spricht für eine Affinität zwischen Großstadt und Religiosität. Wenn die Identitätsstiftung des Glaubens auf memoria beruht, dann müsse, so der Autor, neben den Städten Rom, Konstantinopel, Genf, Wittenberg u.a. auch Berlin als ein „Erinnerungsort des Christentums“ gezählt werden. 

Der Verfasser verweist auf viele wichtige Momente und Stationen der Berliner Religionsgeschichte, die vor allem für den Katholizismus von hoher Bedeutung sind – wie die drei charismatischen Personen Carl Sonnenschein, Dietrich Bonhoeffer und Romano Guardini, die den Berliner Ansatz prägen. Jede der Personen verkörpert eine Art der Diakonie. Über Guardini, die Gründungsfigur des Berliner Ansatzes, und dessen Theologie schreibt Brose, sie habe sein Leben verändert. Guardini habe sich mit seiner diskursiv entfalteten Gottes-Rede bis zum Verbot seines Lehrstuhls der Diakonie am Wort verpflichtet. Bonhoeffer, der als evangelischer Christ ins Verzeichnis der katholischen deutschen Märtyrer des 20. Jahrhunderts aufgenommen wurde, habe mit seinem Leben und Handeln die Diakonie des Widerstandes und der Ergebenheit praktiziert. Carl Sonnenschein als Apostel der Großstadt habe sich mit seinem Büro für Hilfsbedürftige der Diakonie an den Tischen gewidmet und habe mit seiner sozial-karitativen Arbeit allen „Tüchtigen, Defekten und Armseligen“ Hilfe für Leib und Seele zukommen lassen. 

Eindrücklich und bewegend schildert Brose, wie in den Jahren des Nationalsozialismus und später des DDR-Regimes der Glaube für die einen zum Stolperstein und für die anderen zum Eckstein wurde, wie z.B. für die Zeugen von Plötzensee und deren Anhänger. Bernhard Lichtenberg, Erich Klausener, Helmuth James Graf von Moltke und Pater Alfred Delp SJ werden als Vorbilder für gelebten Glauben vorgestellt, die noch heute an der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum als lebendige Steine des Glaubens zu uns sprechen.

Broses Werk lädt ein, trotz oder vielleicht gerade aufgrund der negativen Assoziationen mit und Prophezeiungen für Berlin, die von cloaca maxima über das schwierigste Bistum der Welt bis hin zu einer Stadt ohne Gott reichen, auf eine Spurensuche des Himmels über der Hauptstadt zu gehen und Orte des gelebten Glaubens, Gedenkstätten und Erinnerungsorte aufzusuchen, die vielleicht zu einer tiefen religiösen Erfahrung bzw. einem vertieften religiösen Verständnis führen könnten. Der Weg zu Gott mag in einer Großstadt eine größere Willenskraft und Anstrengung erfordern – etwa sich dem Lärm und Gewirr zu entziehen und bewusst die Stille zu suchen –, Orte indes gibt es dafür genug. 

Brose hat sich zwar auf Berlin konzentriert, jedoch lassen sich viele seiner Ausführungen und Überlegungen ohne weiteres auf andere Großstädte übertragen, so dass nicht nur von einer „Theologie für Berlin“, sondern von einer „Theologie der Stadt“ gesprochen werden kann. An vielen Stellen wirbt der Verfasser für eine solch geerdete, tatkräftige und greifbare Theologie der Stadt, die sich den Großstadtnöten der Menschen anpasst und diese ernst nimmt. Es gibt einen Himmel über Berlin; es gibt einen Himmel über jeder Großstadt – auch wenn nicht gleich sichtbar. Diesen Himmel offenzuhalten, ist laut Weihbischof Matthias Heinrich die Aufgabe für Gegenwart und Zukunft.

Mein Resümee: Nicht in der Kirche, sondern im Krankenhaus wird am innigsten gebetet. Nicht vor dem Altar, sondern in Flughäfen wird am innigsten geküsst. Und nicht auf dem Land, sondern in der Großstadt wird der Glaube am innigsten gesucht, gebraucht und am ehrlichsten praktiziert. 

Kevelaer: Butzon & Bercker Verlag. 2014
218 Seiten
19,95 €
ISBN 978-3-7666-1863-4

 

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