Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Hürlimann: Der Rote Diamant. Roman

In seinem Roman „Der Rote Diamant“ gelingt dem Autor Thomas Hürlimann ein großes Kunststück. Die fein geschliffenen Facetten fügen sich zu einem hochkarätigen Diamanten der Erzählkunst zusammen. Hürlimann lässt es nur so funkeln: Internatsgeschichte, Klosterhistorie, Kriminalkomödie, Pubertätsstudie und Schelmenroman bilden jeweils eine Fläche des Diamanten. Die Fassung, die den Diamanten einrahmt, ist der vorkonziliare Katholizismus sowohl in Doktrin als auch in religiöser Praxis. Hürlimann zeigt, wie mit dem Untergang des fiktiven Stiftsinternats „Maria Schnee“ und mit dem Tod der uralten österreichischen Kaiserin Zita auch die alte Kirche in den Abwärtsstrudel hineingezogen wird. Das ist die Parabel. Die Fassung verlieren, aber mit Heiterkeit und Melancholie – eine typische Besonderheit der Erzählkunst Hürlimanns, die alle seine Werke auszeichnet.

Der Roman ist unter anderem von Hürlimanns Biografie inspiriert. Er hat seine Schulzeit im Gymnasium und Internat von Kloster Einsiedeln in der Schweiz verbracht. Strenge Disziplin, Isolation von Familie und Umwelt, knappe Verpflegung, kaum geheizte Schlafsäle, einheitliche Schuluniform (Kutte und Sandalen), Sexualphobie sowie unzureichende medizinische Versorgung kennzeichnen eine kalte Internatswelt, in der Individualität offenbar wenig geschätzt wurde. Der immer wiederkehrende Zyklus des Kirchenjahres vermittelte Hürlimann ein Gefühl vom Stillstand der Zeit. Er ahnte, was das Wort „Ewigkeit“ bedeuten könnte. Der Schulunterricht hingegen, den er im Nachhinein positiv schätzt, bescherte dem Autor eine gründliche, breit angelegte Bildung. Philosophie und Theologie waren neben den üblichen Schulfächern im Curriculum fest verankert. Das merkt man auch an den gelehrten Anspielungen und Wortspielereien, mit denen die Handlung des Romans gespickt ist. Die unterrichtenden Patres waren wissenschaftliche Experten ihres Fachs. Mit Didaktik und Methodik war es nicht weit her, aber das wurde durch die Begeisterung für die Sache wettgemacht. Einige Lehrer wurden sogar verehrt. Und das Schultheater stand in Einsiedeln hoch im Kurs und hat Hürlimann dazu inspiriert, später selbst als Regieassistent zu arbeiten bzw. Theaterstücke zu schreiben. In anderen Texten Hürlimanns kann man das alles nachlesen. Auch, wie die Protestwelle der Achtundsechzigjahre die Abgeschiedenheit des Klosters erreichte und in der Schülerschaft heftige Widerstände gegen das enge Regime auslöste.

Im „Roten Diamanten“ werden diese Erfahrungen in Einsiedeln komisch zugespitzt und gelegentlich etwas zynisch karikiert. Die Hauptfigur Arthur Goldau wird nicht nur wegen ihres Spürsinns „Nase“ genannt. Die Mönche sind allesamt Witzfiguren, was die Namengebung schon mitteilt. Abt Meinradus, der Dämmerer, dämmert in der Tat fast bewusstlos vor sich hin und kann nur noch „Pace“ stammeln, Bruder Servilius macht seinem Namen alle Ehre. Nur der Präfekt Bruder Frieder ist genau das Gegenteil dessen, was sein Name besagt: Er tritt seinen Zöglingen tyrannisch, verschlagen und unduldsam gegenüber. Zudem ist er Alkoholiker. Seine im Russlandfeldzug abgefrorenen Zehenstummel ragen bedrohlich aus den offenen Sandalen hervor. Er hat unter den Zöglingen ein Spitzelwesen etabliert, um jederzeit alles kontrollieren zu können. Im Stift herrscht die Maxime einer „schwarzen Pädagogik“, durch die die Schüler zu „Vasen“ erzogen werden sollen. „Vasenmensch“ ist ein Leitmotiv des Romans. Außen unterschiedlich, innen hohl, so soll es sein. Die jungen Vasenmenschen sollen durch Unterwerfung und Anpassung zum Mittelmaß erzogen werden, indem sie im Geist des katholischen Traditionalismus der untergegangenen Habsburger Monarchie dressiert werden. Diese erscheint an jedem 1. April eines Jahres in Gestalt der exilierten Kaiserin Zita, die dem Schweizer Internat mit ihrer kuriosen Entourage einen Besuch abstattet, um einer Seelenmesse für ihren verstorbenen Mann Kaiser Karl beizuwohnen. Dieser Besuch hat aber noch einen weniger frommen Hintergrund: Sie will kontrollieren, ob sich der Rote Diamant noch im Kloster befindet, weil er eine ihrer letzten Vermögensanlagen ist.

In „Maria Schnee“ ist es in jeder Beziehung sommers wie winters kalt. Daran kann auch die Marienverehrung, die hier bis ins Absurde gesteigert erscheint, nichts ändern. Dieser Kälte können einige Internatsschüler nur dadurch etwas entgegensetzen, indem sie sich zu einer Gang zusammenschließen. Die intensive Suche nach dem kostbaren Edelstein, der sich nach sechstausendjährigen Irrungen und Wirkungen mutmaßlich im Kloster befinden soll, schweißt die sieben Insassen zusammen. Sie wollen ihn unter allen Umständen an sich bringen, koste es, was es wolle. Manchmal erinnert die Gang der Halbwüchsigen ein bisschen an die bekannten „Drei Fragezeichen“. Auf der Jagd nach dem Roten Diamanten werden andere Geschichten subtil eingeflochten. Da geht es um den Weg des Diamanten vom Busen Kleopatras bis zum Kloster Maria Schnee. Er kreuzt sich mehrfach mit anderen Erzählungen, z.B. in Bezug auf die dunkle Vergangenheit Bruder Frieders in der Nazizeit. Alle Figuren sind direkt oder indirekt miteinander verwoben. Der gleitende Übergang dieser einzelnen Passagen, welche die fortlaufende Handlung unterbrechen und verschachteln, sind ein spannendes Lesevergnügen. Manchmal muss man überlegen, auf welcher Wirklichkeitsebene man sich gerade befindet. Verschachtelte Leseontologie sozusagen. Sie treibt das Lesen ständig an.

Diese geschlossene Welt wird schließlich nach dem Zweiten Vatikanum aufgebrochen: Das „Salve Regina“ erhält durch den Song von Bob Dylan „The Times They Are Changing“ nachhaltige Konkurrenz. „Maria Schnee“ wird später mangels Nachwuchses aufgegeben, die letzten Mönche landen im Pflegeheim. Das meint Hürlimann durchaus als symbolischen Abgesang auf die Kirche.

Einige Gangmitglieder verlieren sich auch später nie ganz aus den Augen. Sie suchen den Roten Diamanten bis an ihr Lebensende und werden darüber fast wahnsinnig. Im Schlusskapitel kommt es zu einem „Showdown“ wie im Drogenrausch.

Hürlimann ist bekennender Platoniker. Eine platonische Variation des berühmten Satzes von Gertrude Stein „A rose is a rose is a rose“ könnte man sich so vorstellen: Der Rote Diamant ist der Rote Diamant ist der Rote Diamant. Erstens ist es der reale kostbare Edelstein an sich, zweitens ist er ein Symbol für alle Legenden und Anekdoten, die um ihn herum gesponnen worden sind, und drittens verkörpert er die Idee des Untergangs. In einer Rezension in der FAZ (09.08.2022) bringt Jochen Hieber es auf den Punkt: „Was aber geht unter? Nicht weniger als das Katholische selbst. Kirche wie Kreuz, Klosterwesen wie Katechismus, Pilgerfrömmigkeit wie Reliquienglaube.“ Die Pointe, dass der verborgene Rote Diamant am Ende spektakulär aufgefunden und in einer Art „säkularer Verborgenheit“ aufbewahrt wird, mag ein Zeichen sein, dass Hürlimann mit seiner Religion zwar gründlich abgerechnet hat, doch mit ihr noch lange nicht fertig ist. Der Humor des Romans wirkt wie ein Phantomschmerz.

Frankfurt: S. Fischer Verlag. 2022
317 Seiten
24,00 €
ISBN 978-3-10-397071-5

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