Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Söding (Hg.): Führe uns nicht in Versuchung.

In dem von Thomas Söding herausgegebenen Band der „Reihe Theologie kontrovers“ geht es darum, wie die sechste Bitte des Vaterunsers „Führe uns nicht in Versuchung“ im Ganzen des Herrengebetes zu verstehen ist. 11 Beiträge namhafter Theologen gehen dieser Frage aus exegetischer, theologischer und pastoraltheologischer Sicht nach, um die Versuchungsbitte dem Menschen von heute in der aktuellen und kontrovers geführten Debatte neu zu erschließen.

Im ersten Beitrag „Um Himmels Willen“ befasst sich der Herausgeber mit der griechischen Textüberlieferung und kommt nach eingehender Prüfung des Begriffs der Versuchung (peirasmos) zu dem Ergebnis, dass es sich dabei nicht um irgendwelche marginalen Versuchungen, sondern um eine Anfechtung handelt, „in der die Liebe zu Gott auf dem Spiel steht und zugleich der Sinn des eigenen Lebens“ (16). Nur weil die Menschen frei wären, könnten sie in Versuchung geraten und müssten in Verantwortung damit fertigwerden. Der von Söding erwogene, aber abgewiesene Gedanke, dass hinter der griechischen Übersetzung ein aram./hebr.Verb im Kausativ gestanden haben dürfte, könnte, was den Anteil der menschlichen Freiheit in der Versuchung angeht, weiterführen. Dort ist nämlich von der Bitte an Gott die Rede, den Beter nicht in die Hände (jadim) bzw. die Gefangenschaft der Versuchung geraten zu lassen (tebienu), sofern diese die eigenen Fähigkeiten des Menschen zu übersteigen und von ihm Besitz zu ergreifen droht. In diesem Sinne geht Söding davon aus, dass Menschen, wenn sie denn in der Versuchung scheitern, nicht deshalb scheitern, „weil Gott es so gewollt und herbeigeführt hätte, sondern weil sie es so weit haben kommen lassen“ (25f). Obwohl er betont, dass hinsichtlich der Formulierung „die Sprache der Kirche nicht sklavisch an den Wortlaut der Bibel gebunden“ (26f) sei, hält er daran fest, dass der Gottesdienstbesucher dazu bereit sein sollte zu beten: „Führe uns nicht in Versuchung.“

In seinem Beitrag „Der Reiz der Versuchung“ geht Christian Frevel vom Begriff der Versuchung im Alten Testament aus und bezeichnet eine das permissive Moment in die Versuchungsbitte aufnehmende Übersetzung als Versuch, „Gott seiner bleibenden Ambivalenzen zu berauben“ (29). An keiner Stelle im Alten Testament wolle die Versuchung den Menschen ins Verderben führen, sie entspringe vielmehr aus der bleibenden Spannung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Gottesbild. Damit sei die in der Versuchung erkennbare Ambivalenz Gottes „notwendiger Bestandteil des Gottesbildes“ (45) und diese aufzuheben bedeute letztlich, „sich von der biblischen Tradition loszusagen“ (45). Somit unterstellt Frevel die im alttestamentlichen Gottesbild gegebene Ambivalenz dem Vaterunser. Es stellt sich die Frage nach dem jesuanischen Gottesbild, das mit der Abba-Anrede ein einzigartiges Zeugnis eines von eindeutiger Treue getragenen Gottesverhältnisses darstellt.

Robert Vorholt thematisiert in seinem Beitrag „Versuchung von Anfang bis Ende“ das Ringen Jesu um die Wahrheit seiner Gottessohnschaft und betont, dass Jesus gerade in der Versuchung „ein absolutes Gottvertrauen“ (60) vorlebt. Aus diesem heraus gelte die Aufforderung an seine Jünger zu beten, „damit sie nicht in Versuchung geraten“ (60). Der Versuchung zu entgehen bedeute letztlich, „in der Kreuzesnachfolge Jesu und also in der Treue und im Gehorsam Gott gegenüber zu bleiben“ (61).

In dem Beitrag über „Die Versuchung des himmlischen Brotes“ geht es Eckhard Nordhofen um die „innere Logik“ des Vaterunsers. Mit dem Vaterunser biete Jesus „den Schlüssel zu einem inkarnatorischen Gottesverhältnis“ (66), wobei jede Bitte die vorige aufgreife und weiterführe. Nach einer philologisch ausführlichen Darstellung der dritten Bitte, bei der der Bezug zur Eucharistie naheliege und die daher als Bitte um das Himmelsbrot zu verstehen sei, stellt er in Bezug auf die sechste Bitte fest, dass diese schon immer irritiert habe, hält aber daran fest, dass der Anspruch des Gebets auf Authentizität schwer beschädigt wäre, „wenn man den Text nur deswegen ändert, weil man sich einen Gott wünscht, der rätsellos und einfach nur lieb ist“ (73). So meine das griechische Wort peirasmos „Versuchung im Sinne einer Prüfung und nicht im Sinne einer Verlockung zum Bösen“ (74). In der Versuchung, „die sich gerade in der Gottesnähe heranschleicht“, drohe „eine gefährliche Dialektik von Gottesnähe und dem Absturz in die Usurpation“ (74). Daher betrachtet Nordhofen die Versuchungsbitte als das „Sicherungsseil“, mit dem man „am Mysterium des nicht kalkulierten Gottes festhält“ (75).

Ihrem Beitrag „Gott bewahre. Wege zum Verstehen der schwierigen Versuchungsbitte“ schickt Johanna Rahner die grundsätzliche Feststellung vorweg, dass liturgische Texte Gebrauchstexte und keine „Zaubersprüche“ sind, „deren Wortlaut um der Gültigkeit willen penibel bewahrt werden müsste“ (77). Nach eingehender Behandlung der Theodizee-Frage (auch in der islamischen Mystik) stellt sie fest, dass Gott als Adressat der Anklage spätestens in der christlichen Mystik mit der Theologie der Compassio „aus dem Spiel“ (87) ist und die Klage zugunsten der Bitte marginalisiert wird. Gegen den Gottesbegriff des Nominalismus als Quelle des neuzeitlichen Autonomie-Gedankens, bei dem die Beziehungslosigkeit und Freiheit Gottes in seine Unberechenbarkeit und Willkür gegenüber dem Menschen „abzudriften“ (89) drohe, eröffne der christliche Inkarnationsgedanke den Blick für Gottes unbedingten Heilswillen als Ausdruck seiner unbedingten Liebe. Dies verändere die Wahrnehmung des Bösen von Grund auf. Angesichts dessen stellt Rahner die Frage, ob nicht an der Aussage von Papst Franziskus festzuhalten ist: „Ich bin es, der da fällt, aber es ist nicht er, der mich in Versuchung geraten lässt… Ein Vater hilft, sofort wieder aufzustehen.“ (93) Die Versuchungsbitte zu verändern sei ein „hehres Vorhaben“ (93) und daher gelte es, das Unbehagen an der gängigen Formulierung wachzuhalten.

Dagegen stellt Julia Knop in ihrem Beitrag „Gottverlassen beten. Wider die Verharmlosung Gottes und die Banalisierung des Vaterunsers“ fest, dass man in Theologie und Kirche mehrheitlich keinen Änderungsbedarf an der deutschen Fassung des Vaterunsers sähe, da sie theologisch valide und ökumenisch verbindlich sei. Gegenstand der Bitte sei „die projektierte Anfechtung der Gottesrelation des Beters, das Drama der in die Krise geführten Nachfolge“ (105). Das Vaterunser sei ein „Gebet, kein dogmatischer Traktat“, und beanspruche daher „keine theoretische Erklärung zur Vereinbarkeit von Gott und dem Bösen“ (107). Angesichts des Verlustes der Gottesfrage heute sollte die Versuchungsbitte „um Gottes willen nicht entschärft oder theologisch verharmlost werden“ (108). Bei dieser Schlussfolgerung stellt sich allerdings die Frage, welchen Anteil die in der Diskussion um das Vaterunser zu Tage tretende Problematik der Vermittlung religiöser Texte an diesem Verlust der Gottesfrage hat und ob demzufolge nicht doch das Vaterunser für ein lebendiges Glaubensleben neu zu buchstabieren ist.

Michael Beintker beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Versuchung als Anfechtung. Das Vaterunser im Fokus der Gottesfrage“ mit den protestantischen Positionen und bestimmt die Versuchung (tentatio) als Anfechtung, in welche Gott den Glaubenden führe. Wissend um die Zerbrechlichkeit des eigenen Gottvertrauens werde Gott angefleht, dem Glauben Festigkeit zu schenken. Die Versuchung müsse verstanden werden als „Ungewissheit, die sich zwischen Gott und den Glauben schiebt“ (122). Die sechste Bitte des Vaterunsers könne daher so lauten: „Gott, lass die Anfechtungen nicht so groß werden, dass sie uns über den Kopf wachsen und wir uns resignierend von dir abwenden.“ (123) Zum Schluss zitiert Beintker aus der Paraphrase von Karl Rahner: „…behüte uns in der Versuchung, die eigentlich nur eine ist. Nicht zu glauben an dich und an die Unbegreiflichkeit deiner Liebe.“

Für Markus Striet geht es in seinem Artikel „Versuchung und Freiheit“ um eine Frage der Rechtfertigung Gottes angesichts dessen, dass der als Vater angesprochene Gott nicht in die Abläufe der Welt rettend eingreift und dadurch unter dem Dauerverdacht stehe, „nicht nur nutzlos zu sein, sondern nicht zu existieren“ (130). Ein fordernder Gott angesichts des erst in der Moderne möglich gewordenen Verständnisses von Autonomie würde den „Ausverkauf jeglicher Ethik und Moral“ (131) bedeuten. Aus diesem Grund dürfe Gott den Menschen nicht auf die Probe stellen oder gar zum Bösen versuchen. Wenn Gott die Freiheit des Menschen achten wolle, führe er in die Versuchung, „weil er sich vorenthält“ (133). So habe Gott auch Jesus „entsetzlich versucht“ (134), indem er sich ihm gegenüber verschwiegen und nicht rettend eingegriffen habe, als es für ihn am Kreuz „hart auf hart“ kam. In Anbetracht der Parusieverzögerung spricht Striet von einer „Dauerversuchung des Menschen durch Gott selbst, weil die Sonne bis heute unterschiedslos über Gerechte und Ungerechte scheint“ (137) – und dies schon so lange, dass die Versuchungsbitte „in einer gottentnüchterten Moderne gewisse Abnutzungserscheinungen zeigt“ (137).

Gunda Werner versteht ihren Beitrag „Und führe mich nicht in Versuchung, denn ich werde sie auch alleine finden“ als „Notizen zu einem unauflösbaren Dilemma“. Dazu findet sie bei Immanuel Kant Erhellendes, „wie die Schuldverstrickung als Verstrickung des Menschen und nicht als eine Tat Gottes gedacht werden kann“ (141). Nach Kant sei der Grund des Bösen selbst „allein im Actus der Freiheit… zu suchen“. Schuld und Sünde seien per se freiheitliche Taten, auch wenn sie noch so unfrei wirkten. Der Mensch erliege aus freien Stücken der Versuchung, und ohne diese wäre „der Glaube wohl kein Glaube“ (148). Die Verfasser des Vaterunsers thematisierten so gesehen weniger Gott als den Menschen in seinem gläubigen Vertrauen.

Isolde Karle behandelt in ihrem Aufsatz „Beten in der Krise“ die seelsorgerliche Kraft des Vaterunsers. Nachdem sie Papst Franziskus mit seiner Kritik an der gängigen Formulierung darstellt, plädiert sie für die Beibehaltung der herkömmlichen Übersetzung aus pragmatischen, seelsorgerlichen und dogmatischen Gründen. Es gehe darum, Gott nicht „zu einem ‚lieben Gott‘ zu verniedlichen“, sondern „das Vaterunser weiterhin so zu beten, wie wir es gewohnt sind, und es damit vor Veränderung zu schützen“ (152). Die in Mt 26,38 gezeigte äußerste Anfechtung des Gottvertrauens Jesu betreffe auch seine Nachfolger. Mit Dietrich Bonhoeffer sieht sie in der Gottverlassenheit „das eigentliche Thema der sechsten Vaterunser-Bitte“ (158). Das Vaterunser sei Teil des kulturellen Gedächtnisses der Christenheit und als einer „der wichtigsten öffentlichen Identitätsmarker der Christenheit in diachroner und synchroner Hinsicht“ (168) zu betrachten. Eine rituelle Teilnahme daran verlange nicht Glauben, sondern nur Akzeptanz, die zu erhalten wesentliche Aufgabe der Kirchen sei.

Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt Winfried Haunerland im letzten Beitrag über „Biblische Bilder im liturgischen Gebet“. Er stellt darin grundsätzliche Überlegungen zu Liturgie und Bibel als Schule des Gebetes und des Glaubens an, ohne thematisch auf das Vaterunser und die Versuchungsbitte einzugehen. Er entfaltet in vier Thesen, dass die Kirche, „wenn sie in der Welt von heute Zeugnis von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes geben will“ (183), neue Ausdrucksformen des Gebets finden muss, die einerseits dem Lebensgefühl und der Vorstellungswelt der jeweiligen Gegenwart entsprechen soll, deren Inhalte andererseits an die Sprache und Bilderwelt der biblischen Texte rückgebunden sein müssen.

Damit ist das Kernproblem angesprochen, das die kontroversen Stellungnahmen zur sechste Vaterunserbitte bestimmt. Die Beiträge sind auf unterschiedliche Weise „Rettungsversuche“ eines lange als unabänderlich betrachteten Textes, der selbst zweifelsfrei die Übersetzung eines verlorengegangenen Ur-Textes darstellt und mit dessen „Übersetzung“ in den gegenwärtigen sprachlichen und theologischen Horizont man sich schwertut. Die unter verschiedenen glaubenswissenschaftlichen Aspekten kontrovers geführten Erörterungen bieten eine Fülle bedenkenswerter Argumente, sich mit dem je eigenen Verständnis- und Glaubenshorizont auseinanderzusetzen. Es stellt sich die Aufgabe, die in der griechischen und lateinischen Sprache überlieferten Textfassungen des Vaterunsers in die eigene Sprache zu „übersetzen“ und damit ein über die Jahrhunderte geronnenes Glaubensgut in das eigene Glaubensleben und Gebet zu verflüssigen und einen Sitz im eigenen Leben einzuräumen. Die sprachliche und inhaltliche Bemühung um das Herrengebet ist eingebettet „in die Geschichte des Christentums, die zugleich als Geschichte der Übersetzung zu lesen ist. Übersetzung ist geradezu ein Markenzeichen des Christentums, das die sprachliche, kulturelle und persönliche Kommunikation des Evangeliums sucht“ (Michael Sievernich). Die Beiträge des vorliegenden Bandes zeugen von einem ernsthaften Ringen um das rechte Verständnis der Versuchungsbitte, sie hinterfragen deren Begrifflichkeit und konfrontieren mit wesentlichen Aspekten dieses zentralen christlichen Gebetes. Ein zum Nachdenken über das eigene Gottesverhältnis und die eigene Gebetspraxis anregendes lesenswertes Buch!

Das Vaterunser in der Diskussion
Freiburg: Herder Verlag. 2018
188 Seiten
16,00 €
ISBN 978-3-451-38264-2

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