Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Weckerle / Ulrich Kavka / Domkapitel Meißen (Hg.): Im Widerschein des Lichts

Die Bildtafeln von Michael Morgner im Dom zu Meißen

Zeitgenössische Kunst und Kirche – was lange nicht zusammenpassen wollte, führt dann zu einem fruchtbaren Dialog, wenn jede Seite die Autonomie des Anderen akzeptiert. Überzeugende Beispiele aus jüngster Zeit stammen von zwei sehr unterschiedlichen, fast gleichaltrigen Künstlern, deren Werke sich perfekt in den Kirchenraum einfügen – und doch darin behaupten. So hat der 1941 geborene Künstlerfürst Markus Lüpertz für St. Andreas in Köln zwischen 2005 und 2010 expressive Kirchenfenster von starker Farbigkeit geschaffen, die sich ganz auf den Raum samt seiner thematischen Vorgaben einlassen. Leider weit weniger Beachtung in der überregionalen Presse haben die vier monumentalen Bilder gefunden, die der 1942 geborene Künstler Michael Morgner 2012 für den Dom zu Meißen geschaffen hat und die in dem vorliegenden vorzüglichen Kunstband gebührend gewürdigt werden.

Werke von Morgner sind nicht das erste Mal in dem hochgotischen Gotteshaus zu sehen: 2009 fand die Ausstellung „Reliquie Mensch“ statt, die auf die Besucher einen nachhaltigen Eindruck machte und den Künstler von der „beste(n) Ausstellung meines Lebens“ sprechen ließ. Drei Jahre später stellt er sich auf Anfrage des Domkapitels der „große(n) Herausforderung“, eigens für den Meißner Dom „3-4 Bilder“ zu schaffen (66). Seit dem 1. Juni 2014 hängen, von Thomas Weckerle sowie vom Künstler und seiner Frau gestiftet, an der nördlichen Langhauswand die Bilder „4 x 4800 x 3000“, wobei der Titel sich auf deren Größe – 4,8 Meter Höhe und 3 Meter Breite – bezieht. 

Wer die Bilder „im Widerschein des Lichts“ betrachtet, sieht sich zunächst einem unübersichtlichen Gewirr von Strukturen gegenüber. Schwarz-Weiß-Töne dominieren, hinzu kommen Grau und Braun. Tritt man ganz nahe heran, nimmt man die nirgends glatte, sondern reliefartige Bildoberfläche wahr, die das Ergebnis eines langen und vielschrittigen Entstehungsprozesses ist: Modeln, die dem Figurenrepertoire des Künstlers entstammen, werden mit Druck auf dickes Papier gepresst und die erhabenen Stellen mit dunkler Farbe bestrichen; anschließend wird das bedruckte Papier befeuchtet, in Bahnen zerrissen und auf der Leinwand neu zusammengesetzt. Nach erneuter Befeuchtung wird das Papier mit dem Messer traktiert und mit schwarzer Farbe überstrichen und später obere Papierschichten abgezogen, so dass die tieferen helleren Schichten hervortreten. Genauer lässt sich diese außergewöhnliche, mit dem Ausdruck Lavage nur annäherungsweise charakterisierte Technik im dem 2016 auf Youtube hochgeladenen Film „Schwarze Kreuzigung“ nachvollziehen.

Entfernt man sich wieder von den Bildern, entdeckt man eine Vielfalt von menschförmigen Figuren. Weiter hilft das in der Kirche ausliegende Faltblatt, in dem der Künstler einige wenige Hinweise auf die Thematik seiner vier Tafeln gibt: „1. Urknall, 2. Kreuzigung, 3. Höllensturz, 4. Auferstehung“. 

Verstehenshilfen, aber keine fertigen Interpretationen gibt das Kunstbuch, dessen Kern die auf zwei Klapptafeln reproduzierten vier Meißner Bilder sowie zahlreiche Detailaufnahmen daraus bildet. Außerdem abgedruckt sind die Bilder und Skulpturen der Ausstellung „Reliquie Mensch“ sowie die thematisch eng verbundenen Grafikmappen „Ecce Homo“ (1994) und „Narben“ (2014). So lassen sich die von Morgner entwickelten zwischen Figuration und Abstraktion changierenden Grundfiguren des „Schreitenden“, der für Freiheit steht, und der „Angstfigur“ auf den Meißner Bildern entdecken – allerdings in einer auch für Morgner ungewöhnlichen Größe. Und deutlich wird, wie eng Inhalt und Form zusammenhängen. Die vom Künstler seit 1984 verfolgte Thematik „Ecce Homo“, welche das Leiden Christi auf die ubiquitären Gefährdungen des Menschen erweitert, erfordert eine Darstellung, die buchstäblich unter die Oberfläche, ja unter die Haut des Bildes geht. 

Nun hat der Zyklus „4 x 4800 x 3000“ seinen Ort nicht in einem Museum, sondern in einer christlichen Kirche gefunden: Dadurch wird die Realität einer vielfach geschundenen Welt nicht kleingeredet – aber durch den hermeneutischen Rahmen des Doms der Hoffnung auf eine endgültige Überwindung aller Leiden Ausdruck verliehen (Joh 21,4).

„Im Widerschein des Lichts“ mit seinen vielen Abbildungen und knappen wie instruktiven Textbeiträgen wird durch zwei im Umschlag befestigte DVDs ergänzt; sie vermitteln einen ruhigen und meditativen – in der Szenenabfolge allzu rhapsodischen – Eindruck von der Aura des Domes mit seinen neuen Bildern: Fast scheint es, Michael Morgners Werke seien immer schon an ihrem Platz gewesen. Das Buch ist nicht nur ein wunderbares Geschenk zu seinem 75. Geburtstag, sondern eine Freude für jeden an moderner Kunst interessierten Betrachter und geradezu eine Einladung in den Dom zu Meißen.

Wien: Verlag für moderne Kunst. 2017
153 Seiten m. vielen Abb. u. zwei DVDs
46,00 €
ISBN 978-3-903131-60-6

 

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