Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Tom Holland: Herrschaft. Die Entstehung des Westens

Inmitten eines religiösen Wandels, der Deutschland, Europa, ja die gesamte westliche Welt erfasst hat, gibt es immer wieder Stimmen, die auf die Bedeutung des Christentums für die Prägung des Abendlandes hinweisen. Neben Philosophen (Tim Crane, François Jullien) und Theologen (Manfred Lütz, Jörg Lauster) melden sich dabei selbstverständlich auch Historiker zu Wort. Einer von ihnen ist der Bestseller-Autor Tom Holland, der in seinem 600-seitigen Werk „die Entstehung des Westens“ nachzeichnet. Die leitende Perspektive seiner Darstellung wird durch den radikalen zivilisatorischen Umbruch bezeichnet, den die Ausbreitung des Christentums in der Antike und die von ihm ausgehenden Impulse für die Jahrhunderte danach bewirkten: „Meine Zielsetzung ist sowieso schon anmaßend genug: herauszufinden, wie es dazu kam, dass wir im Westen wurden, was wir sind, und so denken, wie wir denken. […] Zweitausend Jahre nach der Geburt Christi muss man nicht an seine Auferstehung glauben, um von dem beachtlichen, um nicht zu sagen unausweichlichen Einfluss des Christentums geprägt zu sein.“

Der beachtliche Einfluss, von dem Holland spricht, kristallisiert sich in einer in der westlichen Gesellschaft tief verankerten Mentalität heraus, die er im Vorwort seines opus magnum mit Bezug auf seine eigene Biographie folgendermaßen charakterisiert: „Je mehr Jahre ich mit dem Studium der klassischen Antike zubrachte, desto fremder fand ich sie […] Nicht nur [die in ihr vorkommenden] extremen Auswüchse an Herzlosigkeit bereiteten mir Unbehagen, sondern das vollständige Fehlen eines Gespürs dafür, dass die Armen oder Schwachen auch nur den geringsten Eigenwert haben könnten.“ Das in ihm vorhandene spezifische moralische Empfinden definiert Holland als christliche Prägung, die, in den Gesellschaften des Westens tief in das kollektive Bewusstsein eingedrungen, mittlerweile auch ohne Vorhandensein eines Gottesglaubens weiterwirkt.

Wie ist es nun zu einem solchen Ethos gekommen? Nach der Lektüre des Buches gelangt der geschichtlich Interessierte zu dem Schluss, dass der beträchtliche Umfang der Abhandlung nicht dazu dient, die enorme Belesenheit des Autors und dessen Detailkenntnis über die Epochen hinweg darzustellen, sondern dazu, in einer Art anschaulichem Beweisgang zusehends plausibel zu machen, warum sich eine Chronologie von Ereignissen und Entwicklungen auf eine so überraschende Weise als Prozess der Entfaltung des christlichen Ethos auf mehreren Kontinenten interpretieren lässt, wie dies Tom Holland tut. Trotz der langen (und dennoch kohärenten) Gesamtargumentation lassen sich die vorgetragenen Episoden getrennt voneinander lesen und verstehen; der narrative Duktus macht das Buch bei einer solchen Verwendung im hohen Maß auch für den schulischen Unterricht tauglich.

Dass es sich bei aller geschichtstheologischen Bedeutsamkeit um einen Nicht-Theologen handelt, der hier erzählt – das Werk kann tatsächlich als eine große lange Erzählung verstanden werden und erinnert in dieser Hinsicht an das Buch „Griechische Geschichte erzählt“ von Klaus Rosen – hat neben dem Aufklärungscharakter im Hinblick auf den blinden Fleck des Westens etwas sehr Erfrischendes: Die hier referierte Weltgeschichte wird unter neuer Perspektive aufgerollt; diese erzeugt Staunen, lässt den einen oder anderen Übersetzungs- oder Lektoratsfehler verzeihen und den Leser in einem veränderten Wissen um das Gewordensein dessen, was wir als den säkularisierten Westen begreifen, zurück.

Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. 3. Aufl. 2021
619 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-608-98356-2

Zurück