Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Volker Gerhardt: Glauben und Wissen

Ein notwendiger Zusammenhang

Volker Gerhardt ist ein 1942 geborener Philosoph, der zz. an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt und forscht. Neben seiner universitären Tätigkeit ist er in zahlreichen akademischen und gesellschaftspolitischen Betätigungsfeldern aktiv, z.B. im Ethikrat der BRD, in der Grundwertekommission der SPD und im Hochschulbeirat der EKD. Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn er sich dem komplexen Schnittpunkt von Naturwissenschaften und Religion, einem zentralen Feld menschlicher Lebenswelt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zuwendet. Außerdem ist er, wie er selbst in der „Vorbemerkung“ des Textes betont, der Kantischen Architektur von Vernunft verpflichtet, welche gerade diesen Aspekt von Glauben und Wissen prominent beleuchtet. Schließlich ist er essentiell durch seinen philosophischen Lehrer Friedrich Kaulbach (1912-1992) geschult, der als herausragender Kant-Interpret im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts gilt. 

Prinzipiell wählt der Autor einen begrüßenswerten Ansatz, der die unfruchtbaren Entgegensetzungen der perennen Traditionslinie vermeidet. Vielmehr hat er die Absicht, die „Unverzichtbarkeit“ (8) des Glaubens gerade unter Bedingungen des Wissens aufzuweisen, ja er spricht sogar von einer „Einheit von Glauben und Wissen“ (13) In einem Hinführungskapitel skizziert er einige exempla classica illegitimer Grenzüberschreitungen durch beide Seiten der jeweiligen puristischen Positionen – überhebliche Theologie und Kirche einerseits versus empiristisch enggeführte Wissenschaften anderseits (Beispiel für Letzteres: der frühe Wittgenstein des „Tractatus“ mit seinem Schweigegebot). 

In einem ersten Argumentationsschritt zeigt Gerhardt die Verwiesenheit des Glaubens auf das Wissen: Ohne Letzteres als „Brücke“ zur Welt bliebe jener ohne einen erfahrungsgetränkten Bezug wirklichkeitsfremd und blutarm. Diesem Befund dürften wohl fast alle umsichtigen Vertreter des Glaubens zustimmen. Interessanter ist in einem zweiten Argumentationsschritt der Blick auf die Gegenseite: Welche Argumente führt der Philosoph ins Feld, um die substantielle Angewiesenheit des Wissens auf den Glauben aufzuzeigen? Er verweist zunächst auf eine allgemein anerkannte Feststellung der Wissenschaftspraxis: Mit den stetig zunehmenden Wissensbeständen wächst zugleich explosionsartig das Nichtwissen – vorher nie erahnte Neben- und Folgewirkungen werfen nicht nur Licht, sondern auch lange Schatten. Dies führt bei bewusst lebenden Menschen zu einer existentiellen Orientierungs- und Ratlosigkeit: Selbst maximale Wissensmengen auf der jeweiligen Höhe der Zeit reichen niemals aus, „um verlässlich zu handeln, in Sicherheit zu leben und in Ruhe zu sterben.“ (40) Auf diesem Hintergrund verweist das Wissen über seine engen Grenzen hinaus und bedarf stützender, orientierender Überzeugungen und vorgängiger Leitvorstellungen, die es selbst nicht erzeugen und garantieren kann. Angesichts dieses dramatischen Mankos an Wissen, mit dem wir in praktischer Absicht vertrauensvoll auf Zukunft hin umgehen müssen, ist es notwendig, „an das Wissen zu glauben“ (44), wenn es für die Menschen handlungsleitend sein soll. Gerhardt nennt dies einen „epistemischen“ oder auch „szientifischen“ Glauben. 

Man erkennt in diesem Konzept einer gewaltenteilig konzipierten Bezüglichkeit von Glauben und Wissen Kantische Grundzüge: So wie beim Königsberger Anschauungen (analog bei Gerhardt: empirische Wissensbestände) ohne Begriffe (analog bei Gerhardt: sinnstiftende Glaubensbestände) „blind “ (d.h.: perspektivlos) sind, sind vice versa Begriffe (also: Glaubenssätze) ohne Anschauungen (also: Weltbezüge des Wissens) „leer“ (d.h.: nur abstrakt). In einer Art kritischer Gewaltenteilung will Gerhardt die beiden Größen Glauben und Wissen nicht verdrängen oder neutralisieren, sondern gegenseitig begrenzen und zugleich ermöglichen. Deutlich hört man die Leitmelodie Kants aus dessen erster Kritik mitschwingen: „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ (Vorrede zur KrV)

Summa summarum ist zu bilanzieren, dass die positive Seite der Sicht Gerhardts sicherlich darin liegt, dass er die viel zu lange perhorreszierte Konkurrenz von Glaubne und Wissen durch sein Konzept entspannt und in ein gegenseitiges Verhältnis gewaltenteiliger Verwiesenheit setzt. Die sinnlosen Alternativen: gottlose Welt hier – weltloser Gott dort werden zumindest prinzipiell zugunsten eines Dialogs überwunden. Kritisch anzufragen bleibt jedoch, ob Gerhardts Convivium von Glaube und Wissen ein echter Dialog auf Augenhöhe ist. Formulierungen wie: Glauben sei „ein Produkt“ (38) des Wissens, jener müsse dieses „stützen und ergänzen“ (40) legen nahe, dass Religion im Konzept Gerhardts eher assistierenden Charakter hat. Hier wirkt die Kantische Verortung von Religion als bloßes „Postulat“ nach: Ein solches ist laut Kant fürs praktische Handeln „ungezweifelt gewiss, aber doch nur bedingt“ (KrV 541), d.h. eine abgeleitete Funktion. Ein Dialog zwischen Wissen und Glauben findet also weniger auf als vielmehr unter Augenhöhe statt. Und schließlich: Wenn Gerhardt dem Glauben die Aufgabe der „Ausbesserung der unaufhebbaren Mängel des Wissens“ (60) zuteilt, erinnert dies stark an Feuerbachs hinlänglich bekannte Projektionsthese, die die Existenz affirmativer geistiger Konstrukte aus der Mangelsituation des Menschen erklären will. Nur dieses Mal wären dann nicht der homo religiosus der beim Wunschdenken Ertappte, sondern die Repräsentanten des empirischen Wissens.

Was bedeutet das alles?
Stuttgart: Reclam Verlag. 2016
80 Seiten
6,00 €
ISBN 978-3-15-019405-8

 

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