Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Walter Dietrich: Die Samuelbücher heute gelesen

„Die Samuelbücher sind, leider, voller Krieg.“ – Mit diesen Worten beginnt Walter Dietrich sein Kapitel über Krieg in den Samuelbüchern. Schrecken etwa Gewalt und Krieg im biblischen Text Leser und Leserinnen davon ab, diese beiden Bücher des AT zu lesen? Oder sind diese vielleicht – so vermutet es der Autor – deshalb sperrig, weil sie so viele Geschichtsdaten enthalten, Namen und Ereignisse nennen, die nicht ganz so geläufig sind? Dabei geht es in diesen Schriften doch um Themen, die uns bis auf den heutigen Tag beschäftigen und aktueller sind als je zuvor: Politik, Gewalt, Macht und Machtmissbrauch, Staatenbildung, Krieg – aber auch die Frage nach dem Wesen von Menschen und den Bildern, die diese sich von Gott machen.

Dem Autor, Walter Dietrich, einem ausgewiesenen Experten der Samuelbücher aus Bern, gelingt es bestens, diese sperrigen Bücher verständlich für ein breiteres Publikum zu erschließen, zumal nach der Herausgabe eines vierbändigen Kommentars in der Reihe BK.AT. In seinem Vorwort gibt er offen und ehrlich zu, dass er Probeleser und Probeleserinnen hatte, die er sogar namentlich als Mitverantwortliche für die Publikation im Vorwort auflistet. Dieser dialogische Schreibprozess führt zu verständlichen Einblicken in den neuesten Stand der Samuelforschungen. Dem im Vorwort genannten Lesehinweis, dass man die einzelnen Kapitel auch unabhängig voneinander lesen kann, bin ich gerne gefolgt: Es geht in der Tat! Dennoch sind die Bezüge der einzelnen Kapitel zueinander unverkennbar. Auf die Aktualität der biblischen Aussagen verweist der Autor mehrfach, zudem lassen sich die Bezüge zur Gegenwart leicht aus den Auslegungen erkennen und anwenden. Dennoch bleibt er zurückhaltend und stellt den Text in das Zentrum.

Das Büchlein hat einen gut strukturierten Aufbau: Nach einem persönlichen Vorwort werden im ersten Kapitel Kontext und Inhalt der Samuelbücher in den Fokus gerückt. Die Leserschaft gewinnt Einblicke in den kanontheologischen und geschichtlichen Zusammenhang von 1,2 Sam, lernt die Haupt- und die nicht weniger wichtigen Nebenfiguren der Handlung kennen. Diese sind Hauptträger der Themen, die der biblische Autor im zweiten Kapitel anspricht: Staat und Königtum, Krieg, Macht und Gewinn. Spannend ist gerade dieser Teil des Buches, da er eine untypische Phase der Geschichte in den Blick nimmt, in der die Staatenwerdung und die Organisation des Staates (Stadt- versus Territorialstaaten) thematisiert werden. Typisch für diese Phase sind aber auch die Kriege, Gewalt, Macht und Machtmissbrauch, die Dietrich prägnant skizziert. David wird dabei als zurückhaltender Herrscher vorgestellt, der eher auf Gewalt verzichtet, wo er diese hätte anwenden können. Dieser Teil des Buches liest sich auf dem Hintergrund der aktuellen Weltpolitik fast wie ein Spiegelbild der Gegenwart. So zurückhaltend der Autor mit persönlichen Urteilen und direkten Aktualisierungen auch ist, hier lässt sich deutlich ablesen, was er denkt.

Von den vielfältigen Facetten des Gottes- und Menschenbildes in 1,2 Sam handelt das dritte Kapitel. Die Komplexität der vielen Aspekte ausgerechnet in diesen geschichtlichen Büchern überrascht: Mit der Umkehr der gesellschaftlichen Ordnung von Oben (Erste) und Unten (Letzte), den Gegenpolen Liebe und Hass, Klugheit und List hat der biblische Autor ein sehr realistisches Menschenbild entworfen. Die Gottesbilder sind noch schillernder: Der Gott der Samuelbücher ist eigenwillig, ambivalent, reumütig, abweisend und hilfreich, barmherzig und streng; er wird zudem von weltlichen Machthabern für ihre Zwecke benutzt. Als Grund für diese Komplexität nennt Dietrich den langen Entstehungsprozess der Bücher, an dem unterschiedliche Autoren beteiligt waren. Dadurch entsteht das Bild eines Gottes, der immer für eine Überraschung gut ist.

Die Samuelbücher werden im vierten Kapitel als Literatur vorgestellt (Textgattungen, sprachliche Kunstmittel), worauf der Autor mehrfach in anderen Kapiteln verweist. Diesem literaturwissenschaftlichen Kapitel folgen stark geschichtlich orientierte Abschnitte, die ca. die Hälfte des Buchumfangs einnehmen. Sie handeln von der Entstehung und der textlichen Überlieferung der Samuelbücher, der Geschichte der frühen Königszeit und der Rezeptionsgeschichte dieser beiden biblischen Schriften in der Geschichte. Dazu fügt der Autor im Anhang eine Tabelle zur Geschichte des biblischen Israel an, bei der er folgende Aspekte berücksichtigt: politische Vormacht, archäologische Epochen, Abschnitte der Geschichte Israels sowie einschneidende Ereignisse. Die abschließenden Überlegungen zur Aktualisierung bleiben recht allgemein gehalten.

Die Interpretation der Urgeschichte von Walter Dietrich ist auch für Laien verständlich und regt zum Nachlesen an. Persönlich hätte ich mir mehr theologische Reflexionen (z.B. zum Umgang mit Gewalttexten und Kriegen) und/oder eine Ausweitung der Figurenanalysen der Haupt- und Nebenfiguren anstelle des stark geschichtlichen zweiten Teils des Buches für die pastorale Praxis gewünscht. Aber die Samuelbücher legen diesen Ansatz absolut nahe.

Bibel heute lesen
Zürich: Theologischer Verlag Zürich. 2022
215 Seiten m. Abb.
17,90 €
ISBN 978-3-290-18455-1

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