Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Walter Homolka: Der Jude Jesus

Das Buch ist mehr als nur eine Bestandsaufnahme und Kommentierung der verschiedenen christlichen und jüdischen Auseinandersetzungen mit der Person Jesu. Dem Autor geht es darum, alte Vorbehalte abzubauen und neue Wege der Aussöhnung aufzuzeigen. Diese können aber erst dann beschritten werden, wenn die tiefe Verortung des Jesus von Nazareth im Judentum den Christen deutlicher gemacht wird. Der Leser ist zunächst erstaunt, wenn er die vorangestellte Widmung liest. Sie gilt Christian Stückl, dem Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele. Eine solche Ehrung ist außergewöhnlich, waren es doch gerade die Passionsspiele, die sich seit ca. 300 Jahren eines subtilen und teilweise sogar offenen Antijudaismus bedient haben. Rabbiner Homolka, der Christian Stückl den Abraham-Geiger-Preis 2020 für „Verdienste um das Judentum in seiner Vielfalt“ verliehen hat, bringt damit seine Anerkennung einem Mann gegenüber zum Ausdruck, der sich seit 1990 zum Ziel gesetzt hat, die alle zehn Jahre stattfindenden Passionsspiele der antijüdischen Tendenzen und Klischees zu entkleiden.

In dem 25-seitigen Geleitwort skizziert Jan-Heiner Tück, Professor für Dogmatik, die „polemischen Abgrenzungsdiskurse“ des frühen Christentums. Jede Religion formiert sich durch Abgrenzung gegenüber einer anderen; der Antijudaismus aber blieb nicht auf die „Sphäre des Denkens“ beschränkt, sondern äußerte sich durch Unterdrückung und Verfolgung. Tück schreibt, dass nach den Geschehnissen der Shoah die christliche Kirche seit dem II. Vatikanum zu einer „Gewissenserforschung“ gelangte. Er spricht sich dafür aus, dass die jüdische Leben-Jesu-Forschung von der christlichen Theologie beachtet werden müsse, wehrt sich allerdings als systematischer Theologe gegen eine „Relativierung“ der dogmatischen Christologie.

In den sechs Kapiteln seines Buches gibt der Autor einen Überblick über die Jesusbilder von der Antike bis zur frühen Neuzeit und über die jüdische und christliche Leben-Jesu-Forschung. Es ist die Chronik eines „Bruderzwistes“. Durch den Antijudaismus bedingt, hatten Juden zunächst kein Interesse an dem historischen Jesus. Christen aber auch nicht, denn sie beschränkten sich vornehmlich mit dem kerygmatischen Christus. Jesus, der Jude, war für Christen „tabu.“ Dies demonstriert Walter Homolka mit einem Beispiel aus der Kunstgeschichte. Max Liebermann malte 1879 das Bild „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ (Kunsthalle Hamburg). Dadurch, dass er Jesus als schwarzhaarigen Judenjungen darstellte, geriet Liebermann unter antisemitischen Druck und übermalte das Bild, sodass nun ein blonder, „arisch aussehender Jesus“ zu sehen ist.

Das Interesse christlicher Theologen an dem historischen Jesus sei nur dadurch entstanden, so der Verfasser, weil man eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den Kirchen und dem Judentum ansteuerte. Seit der Aufklärung beschäftigten sich jüdische Forscher mit dem Leben Jesu, weil sie dadurch Rückschlüsse ziehen konnten auf die verschiedenen Strömungen des Judentums zu jener Zeit. Aber auch Jesus als historische Person und seine jüdische Identität sollten näher beleuchtet werden.

In den Kapiteln zwei bis vier erfährt der Leser die unterschiedlichsten Meinungen und Standpunkte der Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts. Ausführlich geht Homolka auf Joseph Klausner (1874-1958) ein, der 1930 die deutsche Übersetzung seiner hebräischen Jesus-Monographie „Jeshu ha-Notsri“ herausbrachte. Es war die erste, 600 Seiten lange wissenschaftliche Darstellung des Lebens und der Lehre Jesu aus jüdischer Sicht.

Besonders hervorgehoben werden die Arbeiten der Pioniere des christlich-jüdischen Dialogs, nämlich Martin Buber (1878-1965) und Schalom Ben-Chorin (1913-1999). Für sie war Jesus eine zentrale Gestalt der jüdischen Geschichte. Martin Buber sieht in ihm einen Menschen, der von Gott erfüllt ist, ein Vermittler des Glaubens, aber nicht „Glaubensobjekt.“ Für Schalom Ben-Chorin ist Jesus „sein jüdischer Bruder ... ein Prototyp, der das jüdische Leidensschicksal verkörpert.“ Er sieht – in Übereinstimmung mit Leo Baeck – das Evangelium als ein Dokument, das zur Geschichte des jüdischen Glaubens gehört. Aber Jesus könne nicht der Messias sein, denn nach seinem Kreuzestod wurde die Welt nicht besser.

Ebenfalls ausgiebig diskutiert der Autor u.a. die herausragenden Arbeiten von Jacob Neussner und Daniel Boyarin. Letzterer vertritt die Ansicht, dass man in den ersten Jahrhunderten keinen Widerspruch darin sah, Jude und Christ gleichzeitig zu sein. Daher könne der historische Jesus viel zur christlich-jüdischen Annäherung beitragen. Einen „theologischen Rückfall“ nennt Walter Homolka die Jesus-Trilogie von Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.), der er sich im fünften Kapitel widmet. Joseph Ratzinger ist davon überzeugt, dass die historisch-kritische Leben-Jesu-Forschung den Glauben, dass Jesus als Mensch auch Gott war, nicht erfasst. Er betrachtet Jesus Christus als den „hermeneutischen Schlüssel“ für das „Alte“ wie das „Neue“ Testament und sieht den Sinai-Bund Gottes mit Israel umgewandelt in den „Christusbund.“ Das bedeutet, so der Autor, dass das Judentum für ihn lediglich eine Vorform des Christentums ist, eine Reminiszenz. Solche Aussagen stärken vielleicht den eigenen christlichen Glauben, die eigene Identität, für Juden bedeutet dies aber eine Herabwürdigung.

Im letzten Kapitel „Der jüdische Jesus – Herausforderung für die christliche Theologie“ wird deutlich gemacht, dass es keinen christlichen Glauben ohne das Judentum gibt. Eine Erkenntnis, die bereits mehrere christliche Theologen vertreten. Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie, sieht einen wesentlichen „Korrekturbedarf“ in der christlichen Soteriologie, der Lehre, nach der Erlösung und Heil unmittelbar mit dem Bekenntnis zu Christus verbunden sind. Und Wolfgang Stegemann, Professor für Neues Testament, ist davon überzeugt, dass der historische Jesus zu einer Relativierung der christlichen „Überlegenheitsansprüche“ beiträgt. Dabei könnten die Bücher „Der Jude Jesus“ und „Christologie auf dem Prüfstand“ (2019, zusammen mit Markus Striet) eine herausragende Rolle spielen.

„Die lange Zeit des Schweigens ist überwunden. Um des gemeinsamen Erbes willen müssen Christentum und Judentum einander Rede und Antwort stehen.“ Dieses Buch, verfasst von einem Rabbiner und Wissenschaftler, demonstriert sehr deutlich, dass der historische Jesus durchaus ein Bindeglied zwischen Judentum und Christentum sein kann. Mit dieser Einsicht würde sich der christlich-jüdische Dialog sehr viel substantieller gestalten können. Von daher sollte es eine Pflichtlektüre sein für Theologen, Judaisten, Priester, Rabbiner und Religionslehrer sowie für an Religion interessierte Laien.

Eine Heimholung
Mit einem Geleitwort von Jan-Heiner Tück
Freiburg: Herder Verlag. 2020
256 Seiten m. s-w Abb.
22,00 €
ISBN 978-3-451-38356-4

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