Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Giotto di Bondone: Heiliger Franziskus vor dem Sultan (1295) (gemeinfrei)

„Es gibt keinen Zwang in der Religion“!

Religionsfreiheit im Islam?

Wenn man heute Muslime fragt, ob es im Islam Religionsfreiheit gibt oder geben kann, würden die meisten wohl zur Antwort geben: „Natürlich, steht doch schon im Koran!“ Zum Beweis werden dann Verse wie dieser zitiert: „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ (Sure 2,256). Tatsächlich wird dieser Vers von modernen, liberalen islamischen Theologen und Rechtsgelehrten heute zur islamischen Begründung der Religionsfreiheit herangezogen. Die Auslegungsgeschichte des Verses und die konkrete Praxis allerdings war eine andere.

Viele Rechtsgelehrte der klassischen Zeit hielten den Vers für abrogiert, das heißt in seiner Geltung durch später geoffenbarte Koranverse aufgehoben, die durchaus Zwang zur Konversion zu erlauben scheinen. Andere dagegen differenzierten: Gegenüber den „Schriftbesitzern“, das heißt Juden und Christen, dürfe kein Zwang angewandt werden, gegenüber den Götzenanbetern jedoch sehr wohl. Dies entsprach weitgehend auch der tatsächlichen Praxis: Juden und Christen wurden im Laufe der islamischen Geschichte in den wenigsten Fällen gezwungen, den Islam anzunehmen, Angehörige der altarabischen Stammesreligionen oder etwa die Berber im Maghreb wurden sehr wohl zum Islam gezwungen.

Gegenüber Juden und Christen herrschte im islamischen Mittelalter also durchaus eine „relative Toleranz“: Sie durften ihren Glauben, in der Regel auch ihre Kirchen behalten, Gottesdienste feiern und meist sogar ihre internen Angelegenheiten nach ihrem eigenen religiösen Recht regeln, sofern es nicht gegen das islamische Recht verstieß. Mission jedoch war ihnen verboten, der Neubau von Kirchen erschwert, viele Ämter und Aufgaben im Staat verwehrt. Es wäre allerdings auch anachronistisch, an diese Zeiten die Maßstäbe der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 anzulegen.

Islamische Theologen der klassischen Zeit wie die Mu’taziliten interpretierten den Koranvers 2,256 weniger im rechtlichen Sinn als vielmehr theologisch: Gott zwingt den Menschen nicht zum Glauben, der Mensch hat die innere Freiheit, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. An diese Auslegung knüpfen moderne muslimische Theologen an, indem sie von der theologischen Ebene auf die rechtliche schließen: Wenn Gott keinen Zwang im Glauben ausübt, dann darf auch keine innerweltliche Instanz Zwang ausüben. Man muss allerdings zugestehen, dass diese Argumentation heute keineswegs schon Mainstream in der islamischen Welt ist: Die meisten islamischen Gelehrten sind nach wie vor von der traditionellen Sicht geprägt. Dies zeigt sich auch an den sog. „islamischen Menschenrechtserklärungen“ aus den Jahren 1981 („Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam“) und 1990 („Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam“), die allerdings nirgendwo ratifiziert worden sind. Beide sprechen zwar von der Gewährung von Religionsfreiheit, stellen dieses Recht aber – wie andere Freiheitsrechte auch – zugleich unter „Schariavorbehalt“: „Jeder kann denken, glauben und zum Ausdruck bringen, was er denkt und glaubt, ohne dass ein anderer einschreitet oder ihn behindert, solange er innerhalb der allgemeinen Grenzen, die die Scharia vorschreibt, bleibt.“ (1981) Wie diese „allgemeinen Grenzen“ genau definiert werden, wird nicht gesagt, aber man kann davon ausgehen, dass sie von der traditionellen Lehre her, also eng gezogen werden. Eine volle Gewährung der Glaubensfreiheit ist damit nicht garantiert – auch nicht für die Muslime selbst, denn nach dem klassischen islamischen Recht gilt der Abfall vom Islam als politischer „Hochverrat“ und kann deshalb mit dem Tode bestraft werden.

Die konkrete Situation in den mehrheitlich islamischen Ländern heute ist dagegen sehr unterschiedlich: Am einen Ende des Spektrums stehen Staaten, die sich als islamisch definieren und die Scharia zum einzigen staatlichen Gesetz gemacht haben. Dazu zählen islamistische Staaten etwa Saudi-Arabien, Iran, Sudan. In diesen Ländern gibt es permanent schwerste Verstöße gegen das Menschenrecht auf Religions- und Gewissenfreiheit; sie wenden die Scharia sogar in viel rigoroserem Maße an als zu Zeiten früherer islamischer Dynastien wie der Abbasiden oder der Osmanen, weil sie die Scharia als politisches Herrschaftsinstrument missbrauchen.

» Nach klassischem islamischen Recht gilt der Abfall vom Islam als politischer ‚Hochverrat‘ und kann mit dem Tode bestraft werden.«

Andreas Renz

Am anderen Ende des Spektrums stehen Staaten wie die Türkei, die zwar mehrheitlich muslimische Bevölkerung haben, deren staatliches Recht aber säkular ist. Dass in der Türkei vor allem für religiöse Minderheiten wie Christen oder Aleviten dennoch keine volle Religionsfreiheit gilt, ist in diesem Fall nicht religiös begründet, sondern einer ursprünglich religionsfeindlichen säkularistischen und nationalistischen Ideologie des Kemalismus geschuldet.

Die meisten islamischen Länder liegen hinsichtlich der Gewährung von Religionsfreiheit irgendwo zwischen den beiden genannten Extremen. Dabei scheint es notwendig, immer wieder zu betonen, dass es sehr wohl mehrheitlich muslimische Staaten gibt, die zumindest den traditionell dort ansässigen christlichen Kirchen weitgehende Religionsfreiheit gewähren wie zum Beispiel Syrien oder Jordanien und selbst einige Golfstaaten. Auch im größten islamischen Land der Welt, Indonesien, ist Religionsfreiheit verfassungsmäßig garantiert, allerdings nur für die heute sechs offiziell anerkannten Religionen (Islam, Katholizismus, Protestantismus, Buddhismus, Hinduismus und Konfuzianismus). Dies schließt in der Realität leider auch Diskriminierungen und Gewaltakte gegen religiöse Minderheiten in bestimmten Gegenden nicht aus.

Einen interessanten neuen theologischen Ansatz gibt es durch den Brief von 138 islamischen Gelehrten aus dem Jahr 2007 („A Common Word“), der inzwischen von über 300 islamischen Autoritäten aus der gesamten islamischen Welt und aus nahezu allen islamischen Strömungen unterzeichnet worden ist. Darin erklären sie, dass das Doppelgebot der Gottes- und Nächs- tenliebe auch aus islamischer Sicht den gemeinsamen Grund für Dialog und friedliches Zusammenleben von Christen und Muslimen darstellt. Zum Gebot der Nächstenliebe aber gehöre die Gewährung von Religionsfreiheit. Eine theologische Begründung der Religionsfreiheit im Islam ist also möglich, allerdings scheint auch dieser Brief die Religionsfreiheit nur auf die monotheistischen Religionen zu beschränken.

In Folge des Briefes kam es im November 2008 im Vatikan zu einem Katholisch-Muslimischen Forum, das in der gemeinsamen Abschlusserklärung jedoch ohne Einschränkungen formuliert: „Aufrichtige Nächstenliebe schließt den Respekt gegenüber der Person und ihrer oder seiner Entscheidung in Sachen der Gewissens- und Religionsfreiheit ein. Sie umfasst das Recht von Individuen und Gemeinschaften, ihre Religion privat und öffentlich zu praktizieren“ (nr. 5). Natürlich ist die Verbindlichkeit einer solchen Erklärung begrenzt, und konkrete Auswirkungen auf die staatliche Gesetzgebung in islamischen Ländern sind kaum zu erwarten.

Dennoch ist dies ein wichtiger Schritt: Er zeigt, dass die Begründung moderner Menschenrechte wie der Religionsfreiheit von den religiösen Quellen des Islams her möglich ist, wenn eine bestimmte Hermeneutik angewandt wird. Eine ähnliche Entwicklung gab es im Christentum: Hatte die katholische Kirche lange Zeit das Recht auf Religionsfreiheit als modernistischen Irrtum abgelehnt, so gehört die Verteidigung dieses Menschenrechts heute zum unaufgebbaren Bestand katholischer Sozialethik. Warum sollten vergleichbare Prozesse nicht auch im Islam möglich sein? Ansätze dafür gibt es jede Menge (zu nennen wären z. B. Mohammed Talbi, Abdullahi An-Na’im, Farid Esack, Khaled Abou El-Fadl, Nasr Hamid Abu Zaid, Ömer Özsoy, Elhadi Essabah u. v. a.) – diese Ansätze können durch den interreligiösen Dialog weiter gefördert werden.

» Der Kern der Menschenrechte ist begründungsoffen.«

Andreas Renz

Der Kern der Menschenrechte ist „begründungsoffen“, das heißt nicht ausschließlich an die europäisch-nordamerikanische neuzeitliche Kultur oder nur an eine bestimmte Religion, etwa die christliche, gebunden. Diese Begründungsoffenheit macht gerade die Universalität der Menschenrechte aus, andernfalls wären die modernen Menschenrechte nur ein neues Mittel westlicher Hegemonialbestrebungen. Die meisten Muslime weltweit sehnen sich nach Freiheit, wie das aktuelle Beispiel Iran zeigt. Diese Freiheit wird sich nicht auf ewig unterdrücken lassen. Die Gewährung dieser Freiheiten setzt jedoch eine Trennung von Religion und Staat voraus, die im Islam ohne Zweifel schwieriger als im Christentum, aber nicht undenkbar ist.