Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
xx

Damit Gott Gott sein kann

Engel im Christentum

Wer im Geschenke- oder Buchladen nach Engeln Ausschau hält,
wird vor allem einen Typus antreffen: den Schutzengel. Er hat sein
Vorbild in der populären Tobit-Erzählung, in der Rafael Tobias auf
seiner Reise begleitet. Dieses Buch ist relativ jung und hat ältere
Engelsvorstellungen überdeckt. Die ältesten Bilder stammen aus
den Prophetenvisionen der Hebräischen Bibel.

Der himmlische Thronrat

Jesaja, Ezechiel und Micha ben
Jimla ist es gegönnt, kurz in den
Himmel zu schauen, und dort sehen
sie Gott von eigenartigen Wesen
umgeben: Monstren mit mehreren
Flügelpaaren, Adler-, Stier- und
Löwengesichtern (Cheruben), mit
Schlangenkörpern (Seraphen) und
mit Augen übersät. Sie übernehmen
Aufgaben wie die Diener eines
mesopotamischen Hofstaats: Sie
schreien sein Lob, sie reinigen Gäste,
sie tragen seinen Thron. Wer zu
Gott will, kommt nicht direkt zu
ihm, sondern muss an diesen Wesen
vorbei. Gott lässt sich auch von
den Propheten nicht direkt sehen,
sondern umgibt sich mit einem
Schutzwall von Begleitern. Aber
im Unterschied zu babylonischen
Vorstellungen müssen sie den
Herrscher nicht vor Bedrohungen
bewahren, sondern sich selbst
vor seiner überhellen Herrlichkeit
schützen, indem sie ihre Gesichter
verdecken. Im ältesten Engel-Text,
dem Henochbuch, das die jüdische
und die christliche Tradition stark
beeinflussen wird, werden sie explizit
„Wächter“ (hebr. ‘irin, griech.
egregoroi) genannt und bilden quasi
Gottes personifizierte Aufmerksamkeit
für die Welt. Sie tragen die
Anliegen der Menschen vor Gott
und führen seine Befehle bei den
Völkern aus. Eines dieser Wesen
heißt „Menschensohn“; es vertritt
wie ein Pflichtverteidiger die sündigen
Menschen und vollzieht am
Ende das Weltgericht. Jesus wird
diesen Titel für sich beanspruchen.
Und seine Jünger werden ihm den
Titel „Gottessohn“ geben. Auch
diese Christus-Titulatur stammt
aus der Angelologie:

In 1 Kön 22; Jes 6 und Ijob 1f.
fragt Gott die Umstehenden nach
ihrer Meinung. Um diese Vertrautheit
zu unterstreichen, werden sie
auch „Gottessöhne“ (Gen 6,2, Ijob
1,6) oder „Rat der Heiligen“ (Ps 89,8)
genannt. Gott unterhält sich mit ihnen,
er schätzt ihren Rat. Insgesamt
erinnert dieser Hofstaat noch an einen
Rest-Polytheismus, der in der
Hebräischen Bibel auf eine Ministerrunde
für den einen souveränen
Gott herabgesetzt wurde. Wenn
Gott in der Wir-Form sprich („Lasst
uns den Menschen machen“ Gen
1,26), muss das keineswegs immer als pluralis majestatis gelesen werden,
oftmals spricht er im Namen
dieser Ratsversammlung. Dabei ist
das Verhältnis Gottes zu den Räten
aber nicht unproblematisch. An
vielen Stellen sind die himmlischen
Wesen Gegenstand des Gerichts
oder des Zweifels Gottes („Selbst
seinen Dienern traut er nicht, zeiht
seine Engel noch des Irrtums.“ Ijob
4,18). Sie reden ihm auch nicht nur
nach dem Mund, sondern widersprechen
ihm, einer der Hofräte
namens Satan hat sogar die Aufgabe,
Gott in seinem Vertrauen in
die rechtschaffenen Gläubigen zu
verunsichern und ihn zur schrecklichen
Prüfung des treuen Hiob zu
veranlassen. Die Eigenständigkeit
ist so groß, dass Gott Gericht über
sie hält, weil sie gegen Gottes Willen
agieren und die Welt verderben.
Aus dem Fragment in Gen 6,1-4, wo
die „Göttersöhne“ sich Menschenfrauen
nehmen, wird später die
Theorie des Engelsturzes entwickelt.

» Gottes personifizierte Aufmerksamkeit
für die Welt. «

Johann Ev. Hafner
Der Engel des Herrn

Ganz anders verhält es sich mit einer
zweiten Vorstellungsreihe: dem
Herrenengel. Er trägt im Vollsinn
des Wortes den Namen „Engel“,
weil er der Gesandte (lat. angelus,
griech. aggelos, hebr. mal‘ak) des
Herrn ist. Seine Aufgabe besteht
darin, Gottes Nachrichten an die
Menschen zu überbringen (z. B.
an Abraham, an Hagar, an Mose,
an Maria). Dies tut er zuweilen in
der auffälligen Gestalt eines brennenden
Dornbuschs oder einer Feuersäule,
manchmal aber auch unauffällig
als Passant, welcher der verzweifelten Hagar Trost spendet.
Dabei kommt es in den Erzählungen
regelmäßig zur Verwechslung zwischen
der Stimme des Boten und
der Stimme Gottes, z. B. wenn Gott
erscheint, aber der Engel spricht.
Der Engel des Herrn spricht so,
als ob Gott durch ihn hindurch
spräche, und deshalb wird er in
einer Art heiligem Irrtum von den
Angesprochenen auch für Gott gehalten.
Gott und sein Bote sind in
der Hebräischen Bibel derart eng
miteinander verbunden, dass man
fragen kann, ob es sich um ein eigenes
Wesen handelt oder um ein Außengesicht
Gottes. Nicht umsonst
werden das Antlitz und der Engel
Gottes oft in Zusammenhang gebracht:
„Der Herr antwortete: Mein
Angesicht [hebr. panij] wird mitgehen,
bis ich dir Ruhe verschafft
habe.“ Auf die Frage Mose, wie Israel
erkennen solle, dass Gott mit ihm
geht, erwidert Gott: „denn du hast
nun einmal meine Gnade gefunden,
und ich kenne dich mit Namen. […]
Ich will meine ganze Schönheit vor
dir vorüberziehen lassen und den
Namen des Herrn vor dir ausrufen.“
(Ex 33,14.17.19) Wie in Ex 23
der Herrenengel den Israeliten vorausgeht
(Ex 23,20 wörtlich: „Siehe,
ich werde einen Boten angesichts
deiner zu deinem Schutz senden“),
so geht in Ex 33 das Angesicht des
Herrn mit. Gottes Gegenwart wird
im ersten Fall durch ein Mittlerwesen,
im zweiten Fall durch das Pars
pro Toto „Gesicht“ ausgedrückt.
Das Voraussein (hebr. panim) des
Engels steht für das Mitsein des
Angesichts.

Engel im NT

In der bekanntesten Szene, der Verkündigung
an Maria, trägt der ansonsten
anonyme Herrenengel den
Namen Gabriel. Der hohe Gott tritt in
die Niedrigkeit der Welt ein, kommt
in ein Haus und lässt sich auf den
Dialog mit der Jungfrau ein. Wie
keine andere Figur der Bibel eignet
sich der Herrenengel, die Menschwerdung
Gottes anzuzeigen.

Von der Passionsgeschichte sind
die Engel ausgesperrt bzw. Jesus
weigert sich, sie zu Hilfe zu rufen,
weil der Menschensohn diesen
Weg alleine gehen muss. Aber in
den Grabesgeschichten aller vier
Evangelien (auch des apokryphen
Petrusevangeliums) spielen sie die
zentrale Rolle. Die Grabesengel
werden in folgenden Variationen
erzählt:

• in Mk ein junger Mann in weißem
Gewand (im Grab),

• in Mt ein Herrenengel vom Himmel
kommend, leuchtend wie ein
Blitz im schneeweißen Gewand
(vor dem Grab und im Grab),

• in Lk zwei Männer in gleißenden
Gewändern (im Grab),

• in Joh zwei Engel in weißen Gewändern
(im Grab),

• in EvPetr zwei Männer/Jünglinge
im Lichtglanz vom Himmel
herabsteigend, deren Häupter
bis zum Himmel ragen; im Grabe
ein Jüngling in anmutigem und
gleißendem Gewand.

Bei aller Verschiedenheit zeigt sich
eine beeindruckende Ähnlichkeit:
die weiße bzw. blitzende Gewandung.
Bevor Menschen den Auferstandenen
zu Gesicht bekommen,
bezeugen die Engel schon seine
Heimkehr zu Gott. Daher werden
in den ältesten Texten des Christentums
stets die Engel als Erstzeugen
genannt: Im Philipperhymnus
sollen „alle im Himmel, auf
der Erde und unter der Erde ihre
Knie beugen“ (Phil 2,10) und Christus
als den Herrn bekennen. Laut
dem Timotheus-Hymnus (1Tim
3,15f.) wurde Christus „offenbart
im Fleisch, gerechtfertigt im Geist,
er erschien den Engeln, wurde verkündet
unter den Heiden“.

Im letzten Buch der Bibel explodiert
die Bedeutung der Engel
geradezu. Die Offenbarung des
Johannes kennt 23 verschiedene
Funktionsgruppen von Engeln, 15
davon sind direkt mit dem Gericht
beschäftigt. Aus der Erfahrung
von Verfolgungen im ersten Jahrhundert
will die Apokalypse das
Endgeschehen als ein verzögertes
Phasengeschehen darstellen, das
bei aller Retardierung durch dämonische
Gegenmächte und angelische
Strafaktionen dennoch auf
ein Erlösungsziel hintreibt. Folglich
entfaltet die Apokalypse die
Aktivität der Engel vor allem im
Mittelteil, in der Endvision haben
sie nichts mehr zu suchen. Auffälligerweise
ist der Held der Kernszene
(Drachenkampf) nicht Christus,
sondern Michael. Das Lamm wird
in der Thronvision nur präsentiert,
erst ganz am Schluss greift „das
Wort Gottes“ in der Gestalt eines
Ritters ein. Diese prominente Platzierung
Michaels hat dazu geführt,
dass er mit Christus selbst identifiziert
wurde; so verstehen die Zeugen
Jehovas die Johannesoffenbarung
noch heute.

» So sparsam das Dogma in Bezug
auf die Engel war, so kreativ waren
die theologischen Entwürfe. «

Johann Ev. Hafner

Die Erscheinung einer Frau am
Himmel in Offb 12 wurde früh schon
auf Maria übertragen. Man stellt
sie auf einer Mondsichel stehend
dar, sternenumflort, den besiegten
Drachen zu ihren Füßen, daneben
meist Michael samt seinem Engelheer.
„Dann erschien ein großes
Zeichen am Himmel: eine Frau, mit
der Sonne bekleidet; der Mond war
unter ihren Füßen und ein Kranz
von zwölf Sternen auf ihrem Haupt.
Sie war schwanger und schrie vor
Schmerz in ihren Geburtswehen.
Ein anderes Zeichen erschien am
Himmel: ein Drache, groß und feuerrot,
mit sieben Köpfen und zehn
Hörnern und mit sieben Diademen
auf seinen Köpfen. Sein Schwanz
fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde
herab. […] Da entbrannte im Himmel
ein Kampf; Michael und seine
Engel erhoben sich, um mit dem
Drachen zu kämpfen. Der Drache
und seine Engel kämpften, aber sie
konnten sich nicht halten und sie
verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache,
die alte Schlange, die Teufel oder
Satan heißt und die ganze Welt
verführt; der Drache wurde auf die
Erde gestürzt und mit ihm wurden
seine Engel hinabgeworfen.“ (Offb
12,1-7).

Die mythologischen Motive (Himmelsgöttin,
Sternenkind, Drachenkampf,
Dämonensturz) werden hier
als Allegorie für die verfolgte Kirche
verwendet, allerdings wird die
faktische Verfolgung als Urzeit-/
Endzeitgeschehen in den Himmel
verlegt und erhält so eine heilsgeschichtliche
Zwangsläufigkeit.
Michael überwindet den endzeitlichen
Drachen, aber sein Sturz ist
noch nicht seine Vernichtung, sondern
eine Ätiologie dafür, weshalb
in der Zeit der jungen Kirche die
Gegenmächte so hartnäckig auftreten.
Der Drache wird auf die Erde
gestürzt, wo er aus Zorn über seine
Vertreibung aus dem Himmel umso
schlimmer wütet. Wie in den Psalmen,
wo Gott gebeten wird, endlich
Gericht zu halten, so vertagt auch
Offb 12 den Endsieg auf später.
Michael, der schon im AT als der
General („Erzengel“ und nur ihm allein
kommt diese Bezeichnung zu!)
der Himmelsheere auftritt, avanciert
aufgrund dieser Szene zur
Heldenfigur par excellence, zum
Beschützer auserwählter Völker,
zum Kämpfer für die einzelne Seele
(vgl. Jud 9), zum Drachentöter, zum
Wappensymbol bis zur Karikatur
für das deutsche Gemüt (vgl. „Teutscher
Michel“ im 19. Jh.).

Engel im Dogma

Obwohl im NT Christus den Engeln
klar übergeordnet wird, kam es im
2. Jh. stellenweise zur Ausbildung
einer Engelchristologie. Man war
der Ansicht, die Engelserscheinungen
im AT seien Christusvisionen
gewesen. Man nahm fernerhin
an, Christus habe bei seinem
Abstieg zur Welt zunächst Engelsnatur
angenommen, um dann erst
Mensch zu werden. Oder man identifizierte
Gabriel mit dem Heiligen

Geist. Nicht umsonst wird im Hebräerbrief
und am Ende der Johannesapokalypse
so auffällig betont,
dass man nur Christus, nicht aber
die Engel anbeten dürfe (vgl. Hebr
1; Offb 22,9). Der „Hirt des Hermas“
gebraucht „Sohn Gottes“ und
„Erzengel“ synonym, Justin nennt
Christus „Engel Gottes“ (beide um
150 n. Chr.). In diesen Fällen wird
aber Bezug auf Gen 48,14 oder Ex
23,21 genommen, wo der „Gottesbote“
als Gestalt gewordener Gott selber
erscheint und somit auch Christus
als der Bote Gottes schlechthin
bezeichnet werden kann. In der Auseinandersetzung
mit gnostischen
Christen, die viele Grade der Göttlichkeit
unterscheiden, zieht Irenäus
um 200 eine Trennlinie zwischen
Gott und Geschöpf: Engel sind von
Gott geschaffene, nicht ausgeflossene
Wesen. Sie haben demnach
keine göttliche Substanz.

Die Dogmatik hält sich auffällig
zurück, die Engel zu definieren. Man
findet nur wenige, meist indirekte
Festlegungen. Auf dem ersten ökumenischen
Konzil in Nizäa (325) wird
im „Glaubensbekenntnis der 318 Väter“
definiert: „Wir glauben an den
einen Gott, den Vater, den Allherrscher, den Schöpfer alles Sichtbaren
und [alles] Unsichtbaren.“ Diese
Formulierung wird 381 im Nicaeno-
Konstantinopolitanum erweitert zu
„den Schöpfer des Himmel und der
Erde, alles Sichtbaren und [alles]
Unsichtbaren“. Und im Kolosserhymnus
werden die unsichtbaren
Dinge den sichtbaren gegenüber gestellt:
„Denn in ihm wurde alles erschaffen
im Himmel und auf Erden,
das Sichtbare und das Unsichtbare
[ta horata kai ta aorata], Throne und
Herrschaften, Mächte und Gewalten
(Kol 1,16), so dass diese Formel als
erster Artikel in das Credo der Kirche
eingehen wird. Durch die neutestamentliche
Verwendung wurde
somit das aorata von einer Bezeichnung
für das voranfänglich Ungestaltete
zu einem Begriff für die
geistige Schöpfung umgedeutet, die
in der mittelalterlichen Scholastik
für die höchst intelligible Gedankenwelt
steht.

» Die Intervention von Engeln ist hilfreich,
aber nicht heilsnotwendig. «

Johann Ev. Hafner

Expressis verbis kommen die
Engel weder im Taufsymbol noch
in einer Sakramentenformel noch
im Apostolicum vor. Anders als im
Islam wurden die Engel nie zu den
zentralen credenda gerechnet, wohl
aber zu den Glaubenswahrheiten
(credibilia), die man nicht leugnen
darf. Die Intervention von Engeln
ist hilfreich, aber nicht heilsnotwendig,
die Verehrung von Engeln
war seit jeher umstritten und wurde
zur Bitte um Fürbitte reduziert.
In der Dogmengeschichte des Katholizismus
ist nur eine direkte
Festlegung zum Thema „Engel“ erfolgt:
Das „Lateranensische Glaubensbekenntnis“
(1215) entfaltet
nach einem kurzen Bekenntnis des
Vaters und des Sohnes den dritten
Glaubensartikel über den Geist
in einer bis dahin nicht dagewesenen
Breite: „Wir glauben fest […]
ein Prinzip des Alls, Schöpfer der
sichtbaren und unsichtbaren, der geistigen und körperlichen [Dinge].
Er schuf sie in seiner allmächtigen
Kraft vom Beginn der Zeit an eine
doppelte Schöpfung, zugleich vom
Nichts aus die geistige und die körperliche,
das heißt die angelische
und die irdische [Schöpfung], die
gewissermaßen eine gemeinsame
[Schöpfung] aus Geist und Körper
ist.“ (DH 800, eigene Übers.)

» Daher lassen sie sich nicht einfach
verabschieden. «

Johann Ev. Hafner

Hier wird die philosophische Vorstellung
wiederbelebt, wonach Gott
neben der irdischen Welt noch mindestens
eine andere, „angelische“
Welt erschaffen habe. Diese werde
von geistigen, unsichtbaren Wesen
bewohnt. Sie betreiben einen himmlischen
Kult, zu dem sich die Kirche
mit ihren Gottesdiensten quasi hinzuschaltet.
Eine Reminiszenz dafür
finden wir noch in den Präfationen,
die stets mit dem Schlusssatz zum
Sanctus auffordern: „... Dich loben
die Engel und Erzengel, die Kerubim
und Serafim. Wie aus einem
Mund preisen sie dich Tag um Tag
und singen auf ewig das Lob deiner
Herrlichkeit.“ (Präfation zum Dreifaltigkeitssonntag).
Die Erweiterung
der angelischen Liturgie (bei
Jesaja) zu einer Engel und Seelen
umfassenden Liturgie (in Offb) hat
in der alten Kirche zu der Vorstellung
geführt, dass die Christen die
Plätze der gefallenen Engel einnehmen
würden. Ziel jedes christlichen
Lebens ist die Teilnahme an diesem
himmlischen Kult. Das christliche
Paradies besteht also weniger in
der Wiederherstellung eines naturhaften
Garten Eden, sondern in der
Teilnahme am ewigen Gottesdienst.
Im Gegensatz zu den Drangsalen
auf der Erde findet der himmlische
Kult ununterbrochen statt, auch
wenn die irdischen Gemeinden an
der Teilnahme faktisch gehindert
werden. Die Unablässigkeit wird
extra betont, was in der christlichen
Liturgie zum stereotypen
Auftakt „sine fine dicentes“ für das
Sanctus wird. Deshalb versuchen
auch die Mönche, dem immerwährenden
Lob durch ein Tagzeitengebet,
das auch nachts stattfindet,
näherzukommen.

Engel in der Theologie

So sparsam das Dogma in Bezug
auf die Engel war, so kreativ waren
die theologischen Entwürfe. Die
Theologen der Alten Kirche standen
vor der Aufgabe, die wirre Vielfalt
von Engelfiguren in einer Hierarchie
(nicht Genealogie) zu ordnen.
Paulus kannte fünf, Irenäus sieben
Ordnungen. Kanonische Geltung
erlangte die 3x3-Systematik des
Pseudo-Dionysius aus dem 5. Jh.
Es ergeben sich neun Ordnungen,
die in der Kunst durch Attribute
unterschieden werden:

1. vor Liebe brennende Seraphen
(Flammen)
2. vollkommen erkennende Cheruben
(Sterne)
3. Gott umgebende Throne (Wolken)
4. gebietende Herrschaften (Reichsinsignien)
5. Natur lenkende Mächte (Blitze)
6. Dämonen abwehrende Gewalten
(Waffen)
7. Völker anführende Fürstentümer
(Palmzweige)
8. Engel anführende Erzengel (Michael
mit Flammenschwert,
Gabriel mit Lilie, Raphael mit
Fisch)
9. Menschen begleitende Schutzengel
(Kind)

Die Chöre bilden in ihrer Stufung
eine Leiter von der unmittelbaren
Gottesschau bis hin zum Alltagsleben
der Menschen; sie symbolisieren
den mystischen Aufstieg der
Seele zu Gott und die zentrifugal
verströmende Herrlichkeit Gottes.
Allerdings verleitet Hierarchisierung
dazu, Gottesnähe mit Weltferne
zu identifizieren und in der
Folge, Glaube mit Vergeistigung zu
verwechseln. Die Vorstellung einer
Engelsleiter hat manche Mystiker
dazu gebracht anzunehmen,
dass man sich stufenweise bis zum Göttlichen hochmeditieren könne.
Der christliche Inkarnationsgedanke
ist in diesem Denken ein „Kurzschluss“,
weil er statt mystischer
Zwischenstufen Gott und Mensch
unmittelbar verbindet.

Mit Hilfe von philosophischen
Überlegungen schälte sich in der
Scholastik (ca. 1000-1500) ein Standardmodell
heraus, wie Engel zu
verstehen sind. Sie löst sich davon,
Angelologie als Abarbeitung von
kanonisierten Schriftstellen zu betreiben
und weist ihr eine logisch
notwendige Position zu. Man diskutiert
an den Engeln den Bau der
Welt, die Fragen von Raum und
Zeit, das Problem der ersten Sünde,
das Verhältnis von Individuum und
Gattung, die Rolle des Körpers usw.

Geistigkeit.

Hatte man bis ins 3.
Jh. einen feinstofflichen „subtilen“
Engelleib angenommen (Origenes),
werden die Engel bei Augustin
zu Lichtwesen. Nach Petrus Lombardus
entstanden sie aus ungeformter
Form (analog der konfusen
Urmaterie „wüst und wirr“, vgl.
Sent. II 2,5), erst die eindeutige
Konversion zu Gott gab ihnen ihre
endgültige Form. Ein Teil der Tradition
rechnet damit, dass die Engel
sich selbst „formatiert“ haben,
dass also ihr Wesen durch eine
Art Urentscheidung aus einem kritischen
Anfangszustand in einen
stabilen Endzustand getreten ist.
Bei Thomas werden sie schließlich
zu nichtmateriellen, „geistigen
Substanzen“, „reinen Formen“. Das
unterscheidet sie endgültig vom
Gottessohn, der nicht Geist, sondern
Mensch geworden ist.

Ort.

Engel sind nicht „am Himmel“
wie die Sterne, sondern im Lichthimmel
(Empyreum) oder in den höheren
Himmeln verteilt. Als Beweis
hierfür führt Petrus Lombardus an,
dass Jesus nach Lk 10,8 Satan wie
einen Blitz vom Himmel habe stürzen
sehen (vgl. Sent. II 2,4). Engel
sind nicht an einem Ort, sondern
der Ort ist da, wo sie auftreten.

Zeit.

Während Menschen im Nacheinander
verstehen und einen Weg
der Pilgerschaft durchschreiten,
erkennen und erleben Engel im
Nu. Daher trifft der Begriff „Heilsgeschichte“
im temporalen Sinn
nicht auf sie zu, wohl aber im theologischen
Sinne, denn auch sie
sind Teil der oikonomia. Sie erfahren
kein Vorher und Nachher und
durchlaufen dennoch eine geordnete
Reihe von Zuständen. Sie leben
nur in einem ewigen Augenblick.

Anzahl.

Thomas sieht in der großen
Zahl (excessus, Überfülle) von
Geschöpfen ein Zeichen für die höhere
Vollkommenheit (vgl. STh II
50,3). Bereits die Sterne übertreffen
die irdischen Dinge bei weitem,
die Engel übertreffen die Zahl der
Menschen, da sich Geistwesen in
höherem Maße differenzieren lassen
als körperliche Wesen. „Zahl“
heißt bei den Engeln nicht Anzahl
innerhalb derselben Gattung, sondern
eine Mehrheit an Gattungen,
die Gott eingerichtet hat.

Fall.

Wenn Engel gefallen sind und
dies nicht aus ihrer Anfangsnatur
hervorging – denn es ist gesetzt,
dass sie als gut erschaffen wurden
–, dann muss es einen äußeren
Anlass gegeben haben. Die in
der Neuzeit als Theodizee gefasste
Frage nach dem Woher des Bösen
stellt sich bei den Engeln in viel
radikalerer Weise. Engel stehen unmittelbar
vor Gott, sie bewohnen
die himmlische Welt, die nicht mit
der Endlichkeit der Materie kontaminiert
ist. Sie verfügen über einen
lichten Verstand, unbehindert
durch langsame oder fehlerhafte
Denkprozesse. Engel sind sozusagen
nicht einmal egoismusfähig.
Dennoch erwähnt 2 Petr 2,4f. eine
Sünde der Engel. Daher wird die
Vorstellung vom Engelfall um die
Vorstellung einer wie auch immer
gearteten „Engelprüfung“ erweitert.
Wenigstens acht Vorschläge
wurden im Laufe der Christentumsgeschichte
gemacht: Lust (Gen 6), Neugier (Gnosis), Nachlässigkeit
(Origenes), Stolz (Augustinus), Maßlosigkeit
(Anselm), Neid in seinen
Unterformen Neid auf Gott, Neid
auf Christus, Neid auf den Menschen
(Suarez). Was hier wie eine
simple Lasterliste klingt, repräsentiert
das Anregendste, was die
christliche Theologie zu bieten hat.

Und heute?

Was bleibt von all diesen Spekulationen?
Müssen Engel nicht im
Zuge der Entmythologisierung als
zeitbedingte Importe weginterpretiert
werden, damit man zum Kern
des Glaubens kommt? Aber so einfach
ist es nicht. Engel gehören in
allen Schichten der Bibel und zu
allen Zeiten des Christentums zu
den festen Grundannahmen. Die
Propheten berichten von ihren Engelserscheinungen,
Jesus hat fest
damit gerechnet, dass Engel ihm,
dem Menschensohn, helfen. Daher
lassen sie sich nicht einfach verabschieden.
Im Gegenteil, sie erfüllen
wichtige Funktionen im Gesamtbau
der christlichen Religion. Jede Religion,
die einen hochtranszendenten
Gott verehrt, muss diesen davor
schützen, nur als das Gegenteil
des Irdischen begriffen zu werden.
Dann wäre er nur der Unendliche
gegenüber den Endlichen, der Allmächtige
gegenüber den Ohnmächtigen,
der Allwissende gegenüber
den Halbwissenden. Gott wäre nur
die Steigerung oder die Kompensation
irdischer Unzulänglichkeiten,
und damit würde er sich dem berechtigten
Vorwurf aussetzen, er
sei die Befriedigung menschlicher
Bedürfnisse (wer leidet, wünscht
sich einen Heiler, wer sterben muss,
wünscht sich einen Unsterblichen).
Dafür benötigen wir die Engel: Sie
bilden die bessere Hälfte der Welt,
sind unsterblich, zeit- und ortsunabhängig,
leidensunfähig etc. Die
angelische Welt, der Himmel, ist das
Gegenüber der menschlichen Welt,
der Geschichte. Sie sind die niedere
Transzendenz, die übersinnlich,
aber nicht göttlich ist. Die Vorstellung von Engeln ist notwendig, damit
Gott Gott sein kann, damit er
nicht einfach als komplementärer
Pol des Irdischen verstanden wird,
sondern als wahrhaft transzendenter
Gott, der der Erde und dem
Himmel, dem Sinnlichen und dem
Übersinnlichen als Schöpfer und
Erlöser gegenübersteht.