Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Buchcover: Philipp und Caroline von Ketteler "Hildegard von Bingen - Ihr Leben für Kinder erzählt", Aschendorff Verlag

Sanft wie eine Feder – stark wie ein Löwe

Die Lebensgeschichte der Hildegard von Bingen erzählt für Kinder und Jugendliche

Das Mittelalter boomt! Es ist
als symbolischer wie dinglicher Zitatenschatz
in der Kinder- und Jugendliteratur
allgegenwärtig. Ein
Blick auf die kinder- und jugendliterarischen
Neuerscheinungen
macht den großen Stellenwert des
Themas Mittelalter deutlich – Autoren
wie Cornelia Funke, Rainer Maria
Schröder, Gerald Morris, Felicitas
Hoppe, Kirsten Boie oder auch
Joanne K. Rowling sind ein Beispiel
dafür. Mythologische Stoffe mittelalterlicher
Prägung sind sowohl im
historischen Roman als auch in der
Fantasy-Literatur äußerst populär.
Auch in Sachbüchern für Kinder
und Jugendliche wird ein basales
Wissen von der Welt des Mittelalters
formuliert, werden Herrschaftsformen
geschildert, aber
auch das Alltagsleben des „mittelalterlichen
Menschen“ (Jaques
Le Goff) beleuchtet. Insgesamt betrachtet
lässt sich dabei in der Darstellung
des Mittelalters sowohl im
historischen Roman als auch in der
Sachliteratur eine für die Bewertung
gesellschaftlicher Strukturen
nicht unerhebliche Verschiebung
erkennen: weg von der Beschreibung
hochstehender Persönlichkeiten
und Herrscher, hin zur Beschreibung
des Alltagslebens der
„einfachen Menschen“. Geschichte
von unten!

Heiligen-Biographien für Kinder
und Jugendliche markieren einen
interessanten Gegentrend zur
Darstellung historischer Epochen
„von unten“ aus der Sicht der einfachen Menschen, wenden sie sich
doch wieder den exzeptionellen
historischen Persönlichkeiten zu
und erzählen sie Geschichte mit
dem Fokus auf eine besondere historische
Persönlichkeit, die ja unter
Umständen von privilegierter
Herkunft war – wie dies für Hildegard
von Bingen zutrifft. Das heißt
jedoch nicht, dass damit zwangsläufig
eine antiquierte Geschichtsschreibung
verbunden wäre, denn
moderne Biographien für Kinder
und Jugendliche verstehen sich
als emanzipatorisch in dem Sinne,
dass sie Lebenswege – auch von
Heiligen und gesellschaftlich hochstehenden
historischen Persönlichkeiten
– kritisch und kontrovers
beleuchten und dass sie einen vielstimmigen Blick auf das Leben
der beschriebenen historischen
Personwagen. Es geht also bei historischen
Biographien für Kinder
und Jugendliche nicht mehr – wie
früher – primär um die Vermittlung
von pädagogischen Vorstellungen,
sondern darum, die Korrespondenzen
zwischen damals und
heute, die Brücken und Brüche,
sichtbar zu machen. Exzeptionelle
historische Persönlichkeiten verlieren
in modernen Biographien für
Kinder und Jugendliche nicht ihren
Vorbildcharakter – aber sie legen
implizit ein ganz anderes, nämlich
modernes Verständnis von Vorbildern
zugrunde.

»Bei historischen Biographien geht
es darum, die Brücken und Brüche
zwischen damals und heute sichtbar
zu machen.«

Sabine Berthold

Charlotte Kerner wagt in der
Biographie „Alle Schönheit des
Himmels – Die Lebensgeschichte
der Hildegard von Bingen“ einen
modernen Blick auf Hildegard
von Bingen, indem sie sowohl ihre
Standhaftigkeit als auch Zerbrechlichkeit
und Gebrechlichkeit aufzeichnet
und sowohl die Kontinuitäten
als auch Brüche in ihrer
Biographie beleuchtet. Hildegard
von Bingen wird hier als Vorbild
verstanden – aber in einem durch
und durch modernen Sinn. Der Autorin
gelingt es dabei, den offenen
Horizont der Geschichte und den
eigenen Sinn der Epoche einzukalkulieren,
wie man in Anlehnung an
den Historiker Otto Voßler sagen
könnte. Häufig verwendet sie die
Frageform, um den offenen Horizont
und die Unsicherheiten der
Überlieferung zu markieren – und
gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit.
Kerner beschreibt Hildegard
von Bingens außergewöhnliche
Fähigkeiten und begleitet sie auf
den einzelnen Lebensstationen: sie
zeigt sie als Visionärin und Mystikerin,
die schon als Kind eine prophetische
Gabe hatte; sie zeigt sie
als Äbtissin mit welt- und kirchenpolitischem
Einfluss; und sie zeigt
sie als Künstlerin und Wissenschaftlerin,
als Mystikerin und Naturwissenschaftlerin.
Dabei wandert ihr biographischer Blick stets
vom Mittelalter zur Gegenwart
und wieder zurück: „Hildegard
ist, wenn wir sie mit heutigen Augen
betrachten, unbestritten eine
sensible, ja übersensible Frau. (…)
Bei großen Entscheidungen und
wichtigen Umständen zeigt sie
körperliche Symptome bis hin zur
Lähmung, Blindheit und Sprachlosigkeit.
(…) Im Mittelalter haben
wahrscheinlich viel mehr Menschen
seelische Konflikte unbewusst
durch körperliches Versagen
und Zusammenbrüche geäußert
und verarbeitet.“ Charlotte Kerner
stellt deutlich heraus, wie revolutionär
Hildegards Gedanken zur
Rolle der Frau waren, die auch Fragen
der Sexualität nicht tabuisierten.
Und sie macht deutlich, welche
Herausforderung es darstellte, die
Benediktsregel einzuhalten: „Werde
ich ausharren können, hat sich
Hildegard sicher gefragt, ein Leben
lang? (…) Wie alle Heranwachsenden
spürt wohl auch sie – trotz der
Klosterzucht – die Vermessenheit
der Jugend.“ Gerade durch solche
Passagen, in denen Kindheit und
Jugend von Hildegard thematisiert
und imaginiert werden, wird eine
Brücke zu den heutigen jugendlichen
Lesern und ihrer Lebenswelt
gebaut. Hier zeigt sich das besondere
Talent Charlotte Kerners, die
bereits mehrere preisgekrönte Biographien
für Jugendliche verfasst
hat, als Brückenbauerin zwischen
unterschiedlichen Zeithorizonten
und Lebenswelten zu vermitteln.
Gerade diese Aspekte der Kindheits-
und Jugenddarstellung stellen
eine Form der Akkomodation
an die kindlichen und jugendlichen
Leser dar – wenn auch manche
ihrer Schilderungen wohl für die
anvisierte Zielgruppe zu sehr mit
historischen Fakten angereichert
sind.

»Das Bilderbuch stellt die Ethik und
die Ästhetik Hildegards dar.«

Sabine Berthold

Während Charlotte Kerners jugendliterarische
Biographie die
Lebensstationen von Hildegard in
großer Komplexität darstellt, zeigt
das Bilderbuch „Wie eine kleine Feder“
von Philipp und Caroline von
Ketteler zentrale Stationen und
Ereignisse in Form von Schlaglichtern.
Die titelgebende Metapher
der Feder ist aus Hildegards
Schriften entlehnt und wird in
der Einleitung des Buches aufgegriffen:
„Wie ich, Hildegard, mich
fühle? Stellt euch eine kleine, unscheinbare
Feder vor. Leblos und
ohne eigene Kraft liegt sie auf der
Erde; bis zu dem Moment, da der
Wind sie vom Boden aufnimmt und
die Höhe hebt…“ Federn sind in
der Mythologie ein Symbol des Elements
Luft. Sie stehen für Sanftheit
und Leichtigkeit – in der Religion
der Ägypter war die Jenseits-Vorstellung
verbreitet, dass eine Seele,
die so leicht war wie eine Feder,
von keinen Sünden belastet war. So wurde nach dem Tod einer Person
die Seele mit der Feder der Maat
aufgewogen. Federn spielen auch
in der Traumdeutung eine zentrale
Rolle, symbolisieren sie doch unsere
leichten, unbeschwerten Seiten,
den Mut zum Aufbruch, den Flug
zu den anderen, noch weniger vertrauten
Seiten des Selbst. Federn
können, vom Wind getragen, einen
weiten Weg zurücklegen, schwerelos,
voller Leichtigkeit. Hildegard
von Bingen findet für ihren spirituellen
Weg, den sie als Getragensein
von Gott empfindet, das einprägsame
Bild der „kleinen Feder“, die
aus eigener Kraft nicht fähig zu Bewegung
ist, aber von der Kraft des
göttlichen Bewegers getragen wird.

Das Autoren-Team Caroline und
Philipp von Ketteler greifen in ihrem
ansprechend illustrierten Bilderbuch
die Doppeldeutigkeit des
Wortes „Feder“ auf, wenn sie zum
einen die schwebende Vogelfeder
illustrieren, zum anderen die
Schreibfeder Hildegards beim Verfassen
der Schrift Liber Scivias
(1141–1151) („Wisse die Wege“).

Die beiden Autoren folgen dabei
dem Prinzip, das vielen Heiligen-
Legenden und Heiligen-Biographien
zugrunde liegt, wenn sie die
Ursprünge von Hildegards visionärer
Begabung in der Kindheit
verorten: „Nichts gibt es in ihren
Augen, was uns Gott nicht gegeben
hat, damit wir es in Ehren halten.
Sie geht mit so großen und wachen
Augen durch die Welt. Dabei sieht
sie Dinge, die wir noch nie wahrgenommen haben! Mehr noch, sie
sieht Dinge, die wir gar nicht sehen
können! So war sie fünf oder
sechs Jahre alt, als sie mit ihrer
Amme draußen bei den Feldern
spazieren ging. Mit einem Mal
blieb sie vor einer trächtigen Kuh
stehen und beschrieb ganz genau,
wie das Kälbchen im Bauch seiner
Mutter aussieht; jeden einzelnen
Fleck konnte sie sagen! Und genau
so kam das Kalb dann später auch
zur Welt.“

Heiligen-Biographien – so auch
die vorliegende – zeichnen sich in
der Regel dadurch aus, dass sie das
Leben ex post deuten und ihm dadurch
einen übergeordneten Sinn
verleihen. Philipp und Caroline von
Ketteler zeigen die einzelnen Lebensstationen
der Hildegard von
Bingen von der Geburt bis zum Tod
(und auch ihr Nachwirken bis hin
zur Kanonisierung als Heilige und
Kirchenlehrerein durch Benedikt
XVI.) in chronologischer Abfolge.
Sie nutzen dabei jedoch noch einen
weiteren Kunstgriff, indem sie die
Lebensstationen und -ereignisse
aus der Perspektive unterschiedlicher
Zeugen und Wegbegleiter
Hildegards zeigen. So wird Hildegards
bereits außergewöhnliche
Kindheit als 10. Kind von Hildebert
und Mechthild von Bermersheim
sowohl aus der Perspektive der Eltern
als auch aus der Perspektive
der Geschwister beleuchtet: „Anfangs,
da war Hildegard erst drei
Jahre alt, da dachten wir, sie habe
einfach geträumt, als sie uns davon
erzählte, dass sie am frühen Morgen
ein großes Licht gesehen habe.
Aber sie beharrte darauf, dass sie
längst aufgestanden war, dass sie
hell wach gewesen und das Ganze
auf gar keinen Fall ein Traum gewesen
sei.“ Die multiperspektivische
Struktur stellt einige Ansprüche
an die kindlichen Rezipienten und
erfordert einen erwachsenen Vermittler,
der die einzelnen Perspektiven
erklärt und aufeinander
bezieht. Dann erschließt sich die
Vielschichtigkeit des Bilderbuches,
das nicht nur Einblick in das Leben
Hildegards, sondern auch in
das benediktinische Leben und die
mittelalterliche Welt gibt: „Als Frau
stehen ihr die Tore der Domschulen
nicht offen – aber die Augen für die
Welt, die hält sie jederzeit weit aufgerissen…“