Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
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In Verantwortung vor Gott und den Menschen

70 Jahre Grundgesetz

Die Frage stellte Martin W. Ramb

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz feierlich in Kraft gesetzt. Vor 100 Jahren wurde
auch die Weimarer Reichsverfassung verabschiedet, die bis heute durch die sogenannte Inkorporation
ganzer Reichsverfassungsartikel in das Grundgesetz das Verhältnis des Staates
zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften als partnerschaftliches Trennungsmodell
ausgestaltet. Gleich in den ersten Artikeln des Grundgesetzes ist viel von Religion die Rede.
Die Präambel scheut sich nicht von Gott zu sprechen. Was damals noch für viele Menschen
selbstverständlich war, muss 2019 neu bedacht, begründet und in Erinnerung gerufen werden.
Wir haben daher den schul- und bildungspolitischen Referenten des Kommissariats
der katholischen Bischöfe im Lande Hessen, Dr. Markus Kremer, um seine Einschätzung
gebeten.

Herr Dr. Kremer, welcher Grundgesetzartikel ist Ihnen persönlich besonders wichtig?

Es mag vielleicht etwas überraschend klingen, aber es ist der Satz „Eigentum verpflichtet.
Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ (Art. 14 Abs. 2 GG)
Im Zeitalter des Individualismus soll offenbar das, was wir (erworben) haben, vor allem
uns selbst nützen. Dabei vergessen wir meist, dass uns vieles davon nicht aus eigenem Verdienst
zugefallen ist; vielmehr ist unser persönliches „Eigentum“ Ausfluss des allgemeinen
Wohlstandes unserer Gesellschaft, den Generationen vor und mit uns erwirtschaftet haben.
Dies gilt insbesondere auch für das so genannte geistige Eigentum, zu dem ich besonders
die Bildung zählen möchte, die uns in Schulzeit, Ausbildung und Studium zuteil wird. Gerade
in einem ressourcenarmen Land wie Deutschland hat die (Aus)Bildung der Menschen
einen enormen Anteil an dem oben erwähnten Wohlstand. Dabei sollte es uns aber vor allem
darum gehen, unser Wissen in den Dienst der sozialen Gerechtigkeit zu stellen, um gerade
jenen, die aus welchen Gründen auch immer benachteiligt sind, Teilhabe zu ermöglichen
und ein Leben in Würde und Achtung zu führen.

Seine Religion zu leben, ist ein Freiheitsrecht. Welche religiösen Freiheiten schützt das Grundgesetz?

Zunächst ist in diesem Zusammenhang zu unterscheiden zwischen positiver und negativer
Freiheit. Das Grundgesetz schützt auf den ersten Blick die Freiheit, keine Religion
haben zu müssen. Es ist aber auch nicht gleichgültig gegenüber Religion. Zur Religionsfreiheit
gehört es in gleicher Weise, eine Religion haben und sie zeigen zu dürfen. Wichtig ist,
dass der Staat nicht die Kriterien vorgeben kann und will, was Religion ist und was nicht,
was Ausdruck von Religion sein darf und was nicht. Unsere Geschichte lehrt uns, dass eine
solche Verabsolutierung des Staates und die Anmaßung, über Religionen und ihre Anhänger letztgültig zu urteilen, zwangsläufig in die Katastrophe des Holocaust geführt haben. Vor
diesem Hintergrund sind die Artikel 3 und 4 GG zu lesen. Daneben schützt das Grundgesetz
nicht nur die Religionsfreiheit des Einzelnen, sondern auch die Rechte der Religionsgemeinschaften,
deren Erhalt und Bestand ausdrücklich geschützt wird. Dazu gehört nach
Art. 7 Abs. 3 GG auch das Recht, über die Inhalte des Religionsunterrichtes zu bestimmen
(der an sich eine staatliche Veranstaltung ist!). Schließlich möchte ich noch den Sonntagsschutz
(Art. 139 WRV) erwähnen, der zwar nicht religiös begründet wird, aber in seiner
Zielrichtung („seelische Erhebung“) doch auf eine ungestörte Religionsausübung abzielt.

Religion wird in der Öffentlichkeit schnell als Privatsache abgetan. Sobald sie öffentlich auftritt,
besitzt sie Konfliktpotenzial. Schule ist ein öffentlicher Raum. Wie können die Religionen
hier zu Verständigung und Ausgleich beitragen?

Die Religionsgemeinschaften sind in der Schule vor allem durch den Religionsunterricht
präsent. Dieser ist – wie alle Schulfächer – dem staatlichen Bildungsauftrag verpflichtet.
Dazu gehört nicht zuletzt die Erziehung zur Achtung unserer freiheitlich-demokratischen
Grundordnung. Diese ist unmittelbarer Ausfluss der Grundwerte des Grundgesetzes, zu denen
die Achtung der Menschenwürde, Gleichheit, Schutz des Lebens, Freiheit, Toleranz und
Gerechtigkeit gehören. All diese Vorstellungen finden sich schon in der Hl. Schrift und sind
als solche unverrückbarer Bestandteil des christlichen Menschenbildes geworden. Insofern
sind die Religionen nicht nur aus Gründen der Verfassungstreue zu Verständigung und Ausgleich
verpflichtet, sondern weil es zutiefst ihrem Selbstverständnis entspricht.

Dem Religionsunterricht kommt in unserer Verfassung eine besondere Stellung zu. Er wird nicht
nur für alle öffentlichen Schulen garantiert, sondern zugleich konfessionell bestimmt. Religionsunterricht
nach der Verfassung ist immer ein Religionsunterricht der jeweiligen Kirche oder
Religionsgemeinschaft. Gerade hier merkt man dem Grundgesetz doch sein Alter an. Deutschland
ist gerade in den letzten Jahren ein religiös plurales Land geworden. Kann der Religionsunterricht
hier überhaupt Schritt halten?

Der Religionsunterricht hat – gerade an der öffentlichen Schule – nie im luftleeren
Raum stattgefunden! So wie die Schule insgesamt war er immer Teil und Ausdruck des
gesellschaftlichen Wandels und hat auf die jeweiligen Entwicklungen reagiert, indem er
sie aufgegriffen und in Beziehung zum überlieferten Glaubensgut gesetzt hat. Insofern ist
der Religionsunterricht von heute gut beraten, die religiöse Pluralität unserer Zeit aufzugreifen
und als Herausforderung zu betrachten. Dies tut er insbesondere dadurch, dass er
sich der Heterogenität seiner Teilnehmer öffnet. Sein Ziel muss immer sein, die Mündigkeit
der Kinder und Jugendlichen im Hinblick auf ihre religiöse Selbstbestimmung zu fördern,
unabhängig davon, wie ihre Entscheidung am Ende ausfällt. In diesem Sinne ist der Religionsunterricht
keine exklusive Veranstaltung nur für die eigenen „Schäfchen“, sondern offen
auch für Schülerinnen und Schüler anderen oder auch keines Bekenntnisses. Diese Offenheit
kommt in jüngerer Zeit darin zum Ausdruck, dass sich die Kirchen um angemessene
Formen der Kooperation über konfessionelle Grenzen hinweg bemühen.

Elternrechte und Kindererziehung werden vom Grundgesetz zusammengedacht. Trifft das auch
für den Religionsunterricht zu? Oder wie ist in diesem Kontext die Rolle der Kirchen zu sehen?

Die Erziehung der Kinder, auch in Fragen der Religion, ist unmittelbar (geradezu natürlicherweise)
den Eltern übertragen (Art. 6 GG). Insofern bestimmen die Eltern – jedenfalls
bis zum vollendeten 14. Lebensjahr über die Religionszugehörigkeit ihrer Kinder. So
entscheiden sie etwa über deren Taufe und weitere religiöse Unterweisung. Der Staat achtet
dieses Recht dadurch, dass er den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an den
öffentlichen Schulen einrichtet, freilich versehen mit der Möglichkeit, sich „aus Glaubens- und
Gewissensgründen“ davon abzumelden im Sinne der negativen Religionsfreiheit. Die
Kirchen unterstützen die religiöse Erziehung durch ein altersgemäßes pastorales und schulisches
Angebot. Es gilt, den menschgewordenen Gott auf menschliche Weise erfahrbar zu
machen, den Glauben an Jesus Christus behutsam zu wecken und seine Entwicklung so zu
fördern, dass Menschen darin Kraft und Sinn für ihr Leben finden können.

In Deutschland gibt es etwa so viele Konfessionslose wie Mitglieder beider Kirchen zusammen.
Der Ethikunterricht profitiert von dieser Entwicklung. Wie kann der Religionsunterricht auf diese
Entwicklung antworten?

Das Fach Ethik resultiert zunächst aus dem oben erwähnten Abmelderecht vom Religionsunterricht.
Dabei hatte man wohl ursprünglich vor Augen, dass die Mehrheit der
Schülerschaft einem (christlichen) Bekenntnis angehört, gegen das sich Einzelne bewusst
entscheiden. Heute ist die Situation so, dass ein signifikanter Anteil an Schülern einer Klasse
gar nicht erst am Religionsunterricht teilnimmt. Diese Entwicklung führt dazu, dass sich
die Stimmen mehren, die eine flächendeckende Einführung des Faches Ethik fordern, teilweise
sogar auf Kosten des Religionsunterrichtes, sodass am Ende das Verhältnis der Fächer
umgedreht würde. Meiner Meinung nach kann es nicht Aufgabe der Religionslehrerinnen
und Religionslehrer sein, gegen diese Entwicklung anzurennen, obgleich sie durch ihren
anspruchsvollen Dienst täglich Zeugnis für den Wert des Religionsunterrichtes ablegen.
Deshalb ist seitens der Kirchen beharrlich daran zu erinnern, dass nur der Religionsunterricht
verfassungsverbürgtes Unterrichtsfach ist, und dies nicht als ein kirchliches Privileg,
sondern aus der notwendigen Selbstbeschränkung staatlicher Deutungshoheit heraus. Insofern
gibt es Religionsunterricht nicht trotz, sondern gerade wegen der vielbeschworenen
„weltanschaulichen Neutralität“ des Staates. Diese „Richtigstellung“ hat, wo immer nötig,
durch die Kirchen und ihre Vertreter zu erfolgen, und dies nicht nur aus eigenem Interesse,
sondern auch stellvertretend für andere Religionsgemeinschaften, die selbstverständlich
die gleichen Rechte und Pflichten haben. In diesem Sinne verstehe ich auch meine Aufgabe
als schul- und bildungspolitischer Sprecher der Bischöfe in Hessen.

Braucht es Ihrer Meinung nach 70 Jahren eine Weiterentwicklung unserer Verfassung, eine Aktualisierung,
also eine Art Verfassungs-Update?

Dieses Urteil kann ich getrost der gesetzgebenden Gewalt in unserem Staat überlassen.
Ich denke, das Grundgesetz bietet noch genug Potential, im Sinne des „Geistes seiner Väter“
(und Mütter) ausgelegt und angewandt zu werden, gerade in einer Zeit, in der Religion und
Glaube nicht mehr selbstverständlich sind. Was ich mir wünsche, wäre, wenn der positive
Wert von Religion wieder mehr zur Geltung gebracht würde, sodass deutlich wird, dass es
sich dabei nicht um eine „Geißel der Menschheit“ oder „Opium für’s Volk“ handelt, sondern
um eine befreiende und versöhnende Botschaft im Dienste größerer Humanität und Gerechtigkeit,
letztlich um eine kulturelle Errungenschaft „zum Wohle aller“.