Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
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Virtuelle Schöpfung? Oder wie Gaming unsere Wirklichkeit erweitert

Auch wenn der virtuelle Raum unsichtbar erscheint, bleibt er dank sinnstiftender Erzählungen nicht leer. Impulse und Reflexionen für die Sekundarstufe II

Die Frage nach Gott und den Grenzen von Wirken
und Verstehen der Menschen gehört zu
den ältesten der Menschheit. Nach Welt und
Weltenraum dringt der Mensch nun in den kybernetischen
Raum vor, den Cyberspace. In virtuellen Umgebungen
von Computer- und Videospielen lassen sich
Welten erschaffen, Lebensentwürfe planen und soziale
Beziehungen eingehen. Gemeinsam löst man Probleme,
stellt sich Gefahren, verlässt sich aufeinander. Alles
wirkt real. Doch wenn es die Realität ist, die gesucht
wird, warum sucht man sie dann nicht in wahrhaftigen
Beziehungen und Begegnungen? Selbstwirksamkeitserleben
beschreibt die Faszination, sich außerhalb einer
komplexen, globalen, dynamischen und realen Welt
einmal nicht den Konsequenzen stellen zu müssen, die
dort mitunter persistierend sind – das falsche Partyselfie
kann noch lange nachwirken.

Für die Religionspädagogik und den schulischen
Unterricht birgt dieser Umstand viel Potenzial, das oft
nicht realisiert wird. Wo sonst lassen sich mit einem
Mausklick Weltenbauten errichten und wieder einreiFür die Religionspädagogik und den schulischen
Unterricht birgt dieser Umstand viel Potenzial, das oft
nicht realisiert wird. Wo sonst lassen sich mit einem
Mausklick Weltenbauten errichten und wieder einreißen?
Wo sonst lassen sich Abhängigkeitsbeziehungen
auflösen oder feste Gewissheiten durch Ausprobieren
hinterfragen? Wie sind virtualisierte Vorstellungswelten,
in denen es in der einen oder anderen Form
meistens ums Kämpfen geht, ethisch-normativ zu reflektieren?
Wie sind sie so in pädagogische Kontexte zu
integrieren, dass nicht die Technik das Verstehen und
Erleben dominiert und ethische Positionen überlagert?

»Spiele ermöglichen profunde
Einstiege in klassische theologische
Fragen«

Stefan Piasecki
Vier Thesen zu Bildschirmspielen

1. Kirchlicher Religionsunterricht kann sich dem Medieneinsatz
nicht verschließen, praktiziert das aber
oft verschämt oder widerwillig oder klar getrennt
von den eigentlichen pastoralen Angeboten.

2. Weltanschauliche Sozialisation ist heute medial induziert.
Was der Mensch lernt und glaubt, erfährt er
zum übergroßen Teil durch die Medien.

3. Unterrichtsvorschläge sollten modularisiert sein
und eine größtmögliche Partizipation aller Schülerinnen
und Schüler ermöglichen.

4. Lehrelemente sollten einzeln oder kombiniert eingesetzt
werden können, idealerweise ergeben sich Bezüge
in andere Schulfächer.

Die Kernherausforderungen des Kinder- und Jugendalters
beschreibt der 15. Kinder- und Jugendbericht
der Bundesregierung mit den drei Begriffen Qualifizierung,
Selbstpositionierung und Verselbstständigung.
Die Kinder und Jugendlichen sollen demzufolge dazu
ermächtigt werden, Ressourcen zu erschließen und auf
Internetseiten, in Onlineforen oder vermittels von Apps
wie WhatsApp qualifiziert, selbstständig und verantwortlich
zu agieren. Durch Aufklärung, Bildung und
Medienkompetenz können Kinder und Jugendliche angeleitet
werden, eine reflexive Haltung zu entwickeln
und ihr eigenes Handeln und Denken und auch das der
anderen zu hinterfragen.

In der Religionspädagogik sollen Werte, Traditionen
und Hintergründe der Konfessionen vermittelt werden,
um das zu beschulende Individuum hinsichtlich seiner
eigenen Zulassung und Ausbildung religiöser Emotionen
und Suchbewegungen zu stabilisieren. Gleichzeitig
ist es Aufgabe moderner Religionspädagogik, interreligiöses
und -konfessionelles Interesse zu fördern
und Sprachfähigkeit zu schulen.

Wenn so auch das Bildschirmspiel als »Lernraum«
verstanden werden soll, in dem Spieler sich ein- und
zurechtfinden, dessen Bestandteile sie entschlüsseln
und instrumentalisieren müssen, um sie zielgerichtet
einsetzen und darüber weitere Spielstufen erreichen zu
können, in welchen sie auf andere Spieler treffen – welche
Erkenntnisprozesse können unterstützt werden
und wie sind sie zu verbreiten?

Medial, kulturell und technisch vielfältiger

Die Vielfalt an Methoden und Praktiken in der Schulbildung
hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich
verbreitert und steht im Kontext einer Gesellschaft,
die individueller, mobiler, allgemein vielfältiger und
multikultureller geworden ist. Lernen erfolgt seltener
aus Eigeninteresse und vor allem nicht mehr gestützt
auf gedruckte Texte, Zusammenhänge werden nicht
mehr im Kontext erschlossen, sondern fallweise einer
oberflächlichen Google-Suche entrissen. Medien, Hard und
Software als Informationszugänge und Vermittler
stehen im Vordergrund. Lehrinhalte werden aus unbekannten
Quellen ergänzt oder reflektiert. Die JIM-Studie
2018 ermittelte:

• So gut wie jeder Jugendliche nutzt ein Smartphone (97%)

• Fast jeder zweite besitzt eine Spielekonsole

• »Feste« Konsole 46%

• »Mobile« Konsole 45%

• Einen Computer besitzen 71%

Bei den Freizeitaktivitäten dominieren:

• Freunde treffen (71%)

• Sport (69%)

• Familienunternehmungen (38%)

• Kirche/Gottesdienst konnte seinen Anteil gegenüber 2008 leicht ausbauen auf 3%

Vor diesem Hintergrund lässt sich die Herausforderung
für eine medienbewusste Religionspädagogik
erkennen, die das Bildschirmspiel, das Game, im Blick
hat, aber damit umgehen kann; die es einsetzt, ohne
sich davon dominieren zu lassen, denn die Gefahr besteht
permanent. Ablenkung, Erregung, Unterhaltung,
Inspiration sind es, die Games ausmachen – eben jene
Faktoren aber machen Religion schon im Alten Testament
anschaulich und eine aktive Religionspädagogik
findet diese heute in heiligen Schriften, sakralen
Kunstwerken und medial erzeugten Empfindungen. Es
gibt daher keinen Grund, Spiele als Gegensatz zur traditionellen
Religionsvermittlung betrachten, denn sie
ermöglichen profunde Einstiege in klassische theologische
Fragen nach Moral, Wahrhaftigkeit, Weltbildern
und dem Grund und Sinn des menschlichen Tuns.

Spielertypen und Charakterentwicklung

Das Spiel definiert Start- und Zielszenario und hält verschiedene
Realisierungswege bereit. Diese verstehen
und durchleben zu wollen, ist Aufgabe der Spielenden.
Yee hat eine Kategorisierung von Motivationsaspekten
vorgenommen und sie unterteilt in ergebnisbezogene
(»Achievement«), kommunikationsbezogene (»Social«)
und involvierungsbezogene (»Immersion«) Motivatoren.
Beispiele für diese wären etwa Leistungsorientierung
und Erfolgswillen (Achievement), Hilfsbereitschaft
und Gruppendynamik (Social) oder Eskapismus
und Entdeckungsfreude (Immersion). Er bezog sich
auf das ältere Modell der Spielertypen nach Bartle.
Diesem zufolge lassen sich Spielende im Schwerpunkt
als »Draufgänger« (Killer), »Sozialisierer« (Socializer),
»Leistungserbringer« (Achiever) oder »Entdecker« (Explorer)
eingruppieren und in ihrem Handeln identifizieren.
Solche Charakterisierungen lassen sich auch
als Lerntypen oder Lernpersönlichkeiten pädagogisch
feststellen und erreichen.

Stephenson stellt das Spiel in den Kontext der
adoleszenten Charakterentwicklung. Bewusst oder unterbewusst
würden Spiele ausgewählt, die zu den individuellen
Entwicklungsaufgaben passten. Zwar gäbe
es konkrete Erwartungen an ein Spiel, etwa hinsichtlich
einer opulenten Grafik, akzeptabel erscheinen aber eben vor allem Inhalte, die mit der jeweiligen
Lebenssituation zusammenpassen oder auch
zu dieser konträr stehen, in jedem Fall aber
eine Inbezugnahme ermöglichen. Spielende
im Jugendalter, selbst noch »in ambivalenter
Zerrissenheit auf der Suche«, tauchten tief
in ein Spielgeschehen ein und erschaffen mit
Mitspielenden für sie geschützte Lern- und
Entwicklungsräume. Nun träfen frühkindlich
verinnerlichte Symbolbedeutungen des
Adoleszenten (Schutz, Sicherheit, Stärke,
Mut), die anknüpfbar seien an äußere Symbole
(z.B. Ritter, Kriegerin, Held, Herrscherin),
auf »Übergangsobjekte«, etwa einen »Avatar
« im Spiel als Repräsentanz eines sozialen
Selbst oder solchen Gegenübers. Dieser Avatar
bevölkert gemeinsam mit anderen den geschaffenen
Raum und füllt ihn durch die Einwirkungen
der Spielenden mit neuen Bildern
und Bedeutungen.

Virtualität und Wirklichkeit

Unterhaltung und Spiele können die Wahrnehmung
auf verschiedenen Ebenen ermöglichen,
indem sie für positive Irritationen
sorgen, bisherige Denk- und Erlebensweisen
stören, herrschende Diskurse durchbrechen,
»während heilige Texte vor allem herkömmliche
Macht spiegeln«. Gerade Unterhaltung
kann dem Missbrauch des Religiösen durch
Selbstverherrlichung und einer Erstarrung in
toten Ritualisierungen entgegenwirken. Mit
dem Protestantismus als »Anti-Pop« begann
die Verdrängung der bunten, fröhlichen und
ausschweifenden mittelalterlichen Volkskultur
und eines Katholizismus, der durch
Bilder gelebt und in Mysterienspielen voller
Wunder und heiliger Orte in den Dörfern realisiert,
virtualisiert, wurde. Virtualität ist »im
weitesten Sinne diejenige Wirklichkeit, zu der
sich Menschen verhalten; sie ist die Welt als
wahrgenommene oder gedachte, gewünschte
oder geglaubte Welt. Sie ist Wirklichkeit
als notwendigerweise unterstelltes, wirksames
Bezugsfeld unseres Daseins«. Virtualität
bildet immer auch den Hintergrund
individueller Identität, denn hierzu gehören
auch religiöse und weltanschauliche Auffassungen,
die das Individuum in den Kontext
der eigenen und die Vergangenheit seiner sozialen Gruppe stellen. Virtueller Raum mag unsichtbar
sein, aber er ist nicht leer, sondern von Materie und Bewusstsein
abhängig und mit verschiedenen Symbolen
gefüllt; »somit agiert er permanent überlagernd«.
Der Cyberspace nun »ist die Verbindung von Virtualität,
Spiel, Raum und Zeit als Sphäre des handelnden
Menschen mit einer sinnstiftenden Erzählung«. Gelebte
Religion ist Wahrnehmungswissenschaft auch
popkultureller Phänomene und mag als »kulturelles
Zeichensystem« oder gesamtkultureller Teil desselben
eine eigene, individuelle Wahrnehmung des Subjekts
ermöglichen oder verstärken. Games als »neglected
media« rangen lange um Anerkennung, wie auch
Popmusik, wenngleich beide in ihren Ton-, Bilder- und
Erlebniswelten »todernste Existenzfragen« thematisieren
und gerade aufgrund ihrer Nichtintellektualität
als kritische Seite der Gesamtkultur gelten dürfen.

»Virtueller Raum mag unsichtbar
sein, aber er ist nicht leer«

Stefan Piasecki