Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Assago (Milan) 21/02/2012 Dream Theater in concert at Forum of Assago (Milan) Photo by Prandoni/Infophoto © picture alliance

We move in circles...

Motive postmodernen Zeitverständnisses im Stück „Octavarium“ der Gruppe Dream Theater

Musik ist eine Reflexion der
Zeit, in der sie entsteht, heißt es
in einem Diana Ross zugeschriebenen
Zitat. Es verdeutlicht, dass
Musik stets durch Ereignisse in
deren Entstehungszeitraum beeinflusst
wird oder sich überdies
durch Ereignisse neu- oder weiterentwickelt.
Viele Analysen moderner
Musikstücke suchen nach
Spuren dieser für den Künstler bedeutsam
erscheinenden Geschehnisse
in Text und Musik. Sie sollen
Aufschluss darüber geben, wieso
das Musikstück zu seiner Form gefunden
hat. Selten hingegen nimmt
der Künstler selbst eine zeitliche
Selbstbetrachtung seines eigenen
Schaffens vor, in der er über die
rein retrospektive Betrachtung des
Gewesenen hinaus einen Entwurf
zur Deutung der zeitlichen Struktur
entwickelt. Bei einem solchen
Werk wäre es nun interessant zu
erfahren, mit welchen Formen der
Zeitvorstellung das vom Künstler
gezeichnete Konzept Ähnlichkeit
besitzt. Hierzu soll im Folgenden
ein Blick auf das Musikstück „Octavarium“
der Musikgruppe Dream
Theater geworfen werden.

Zur Symbolik des Werks Octavarium

Das Lied „Octavarium“ bildet den
Schlusspunkt des gleichnamigen
Konzeptalbums, das im Jahr 2005
von Dream Theater veröffentlicht
wurde. Mit einer Spielzeit von 24
Minuten führt der Longtrack das Konzept des achten Studioalbums
genretypisch inhaltlich wie musikalisch
zum Höhepunkt. Auch in
diesem Lied spiegelt sich die kompositorische
und instrumentale
Vielseitigkeit und Komplexität wider,
welche charakteristisch für die
Musik Dream Theater’s sind.

Das Konzept des Albums kann in
Verbindung mit dem Lied nur skizziert
werden. Der Fokus soll auf der
dem Konzept innewohnenden Deutung
der Zeit liegen.

Wie dem Namen des Albums und
des Musikstücks zu entnehmen ist,
kommt der Zahl Acht die tragende
Rolle im Konzept zu. Historisch
taucht der Begriff im Titel eines liturgischen
Buchs Namens „Octavarium
Romanum“ auf, das während
des Pontifikats Papst Pius V. (1585-
1590) erarbeitet werden sollte, aber
erst 1628 erschien.

Ferner gibt es vielfältige Interpretationen
der symbolischen Verwendung
des Begriffs „Octavarium“
und auch der Zahl 8. So kann
das Wort aufgeteilt werden in octa
(lat. Acht) und varium (lat. verschieden),
dessen Bedeutung acht
Variationen sein könnte. Ebenso
denkbar ist folgende Variante octava
(lat. der achte Teil) und das
lateinische Suffix arium, was einen
Raum beschreibt, in dem etwas
aufbewahrt wird. In der Musik beschreibt
die Oktave darüber hinaus
eine Gruppe von acht Noten, in der
die letzte Note genau eine Oktave
höher ist als die erste. Diese Deutungen sind insoweit plausibel, als
dass sie durch Hinweise in Musik
und Lyrik gestützt werden können:
beispielsweise der Hinweis auf den
Raum durch die Textzeile „trapped
inside this octavarium“ im Lied
„Octavarium“. Im Arrangement der
Musik finden sich Anhaltspunkte
durch die Anzahl der Lieder auf
dem Album (acht Titel) und den
acht Strophen im vierten Teil des
Liedes „Octavarium“ (IV. Intervals).
Diese acht Strophen führen auf den
Höhepunkt mit der genannten Textzeile
„trapped inside this octavarium“,
indem sie wiederum lyrisch
wie musikalisch mit allen acht Liedern
des Albums korrespondieren.

Das ist nur ein kurzer Ausschnitt
an Hinweisen auf die Zahlensymbolik
des gesamten Albums, da
neben der Acht auch die Zahl Fünf
eine herausgehobene Bedeutung
besitzt – ein Verweis auf 1985, das
Gründungsjahr Dream Theater’s.
Ferner lassen sich weitere Spuren
der Skalensymbolik in der Gestaltung
des Artworks, den anderen
Liedern und im Arrangement der
Noten finden, die aber an dieser
Stelle in ihrer Gänze nicht dargestellt
werden können. Daher ist auf
die dem Artikel folgenden Internetseiten
zu verweisen, die eine detailliert
lyrische und musikologische
Darstellung bieten.

Das full circle-Motiv

Ein wichtiges Motiv für die Betrachtung
des Zeitverständnisses ist das full circle-Thema, welches
eine herausragende Rolle im Album
und im Lied „Octavarium“ selbst
spielt. Das Thema beschreibt die
Idee einer zyklischen Entwicklung,
dass man am Ende dort ankommt
von wo aus man gestartet ist. Anhaltspunkte
für diese Idee finden
sich in der Musik wie auch in der
Lyrik.

So beginnt das Album „Octavarium“
mit derselben Note (F), die
das letzte Lied (In the Name of God)
auf dem Vorgängeralbum Train of
Thoughts beendete. Das erste Stück
des Albums „Octavarium“ (Root of
all Evil) endet wiederum in einem
Klavierthema, welches vom letzten
Lied (Octavarium) stammt. Dieses
Stück mit einer Spiellänge von exakt
24 Minuten weist auf den Tageszyklus
hin und besteht aus insgesamt
acht Teilen (fünf Strophen
und drei Instrumentalteilen), dem
Hinweis auf eine Oktave als musikalischer
Zyklus. Die Oktave beginnt
technisch mit der Note, mit der
sie auch endet.

Die Liedtexte des Stücks „Octavarium“
geben weitere Hinweise
auf das full circle-Motiv. Im ersten
Teil „Someone like him“ möchte
der Erzähler ein selbstbestimmtes
und ausgefülltes Leben führen und
sich ausdrücklich von dem von ihm
(einer dem Zuhörer unbekannten
Person) gewählten Lebensweg abgrenzen.
Er will anders sein und
niemals werden wie sein Gegenüber.
Letztlich muss er aber feststellen,
dass es im Laufe der Zeit
sein einziger Wunsch geworden ist,
den ursprünglichen Weg des anderen
einzuschlagen.

Der zweite Teil Medicate (Awakening)
erzählt von einem Patienten,
der lange Zeit im katatonischen
Zustand verbracht hat, durch Medikamente
aber nur kurz zu Bewusstsein
gebracht werden kann
und schließlich unwiederbringlich
in den ursprünglichen Zustand zurückfällt.

Die ersten vier Strophen des
dritten Teils Full Circle bestehen
ausschließlich aus Namen, Titeln
und Textfragmenten moderner
Musikstücke und Künstlernamen.
Die sich anschließenden letzten
zwei Strophen setzen sich aus Gegensatzpaaren
zusammen, die verdeutlichen,
dass Anstrengungen
des Ausbruchs vergeblich sind
(Running forward, Falling back
(…), Looking outward, reaching in)
und man sich letztlich doch nur im
Kreis bewegt hat (Spinning round
and round (…), Only to find I’ve
come full circle).

Wie oben bereits erwähnt, stellt
jede Strophe des vierten Teils (Intervals)
eine Referenz zu allen Liedern
des Albums dar. Dies wird nicht nur
durch die Aussagen der Textteile,
sondern auch durch das leise Abspielen
von Ausschnitten der acht
Lieder im Hintergrund deutlich. Zusätzlich
repräsentiert jede der acht
Strophen durch die Tonalität ein Intervall
einer ganzen Oktave. Im doppelten
Sinne führen die acht Stufen
(step after step) zur Einsicht, dass
sich der Kreis musikalisch und inhaltlich
schließt. Man versucht sein
Schicksal in die Hand zu nehmen
und während man Pläne schmiedet,
muss man am Ende doch bemerken,
dass es bereits zu spät ist – so beginnt
man wieder dort, wo man angefangen
hat.

Der fünfte Teil (Razor’s edge) endet
mit der Zeile „The story ends
where it began“ und mit derselben,
vom Klavier gespielten Note, die als
erstes auf dem Album zu hören ist –
damit schließt sich der Kreis.

Die Hintergründe zum full circle-
Thema wurden durch die Mitglieder
der Musikgruppe niemals
systematisch bekannt gegeben, sodass
unterschiedliche Interpretationen
im Zuhörerkreis existieren.
Eine weit verbreitete Deutung verbindet
die Aussagen „Octavariums“
mit der musikalischen Entwicklung
Dream Theater’s und der persönlichen
Geschichte der einzelnen
Mitglieder.

Spuren postmodernen Zeitverständnisses

Unter der Annahme, dass es sich bei
dem Werk „Octavarium“ um lyrische
und musikalisch interpretierte
Selbstaussagen über die eigene Geschichte
handelt, gibt die Gruppe
dem Gewesenen retrospektiv eine
selbstgewählte Ordnung und Deutung.
Die grundlegende Erkenntnis
der geschichtlichen Selbstbetrachtung
besteht darin, dass Ereignisse
zyklisch wiederkehren. Gleichzeitig
bedeutet dies eine Absage an eine
lineare Zeitvorstellung.

Greift man die zu Beginn formulierte
Annahme auf, in der Interdependenzen
zwischen Zeit und Musik
bestehen, so wäre abschließend
zu überprüfen, ob dies auch auf das
Werk „Octavarium“ zutrifft.

Durchaus legen aktuelle Untersuchungen
den Schluss nahe, dass
die lineare Zeitvorstellung in der
Postmoderne als zunehmend realitätsfremd
wahrgenommen wird
und an Glaubwürdigkeit eingebüßt
hat. Während im Zeitverständnis
der Moderne die Idee des linearen
Fortschritts und einer besseren
Zukunft noch Bestand hatte, wurde
diese Überzeugung in jüngster
Vergangenheit vermehrt in Frage
gestellt. Denn die Erfahrungen
zeigen, dass die Fortschrittsidee
der Moderne Risse bekommen hat
(Umweltverschmutzung, Unfälle,
Resourcenknappheit). Es ist nicht
mehr sinnvoll, mit allen Mitteln in
die Zukunft zu streben, wenn diese
keine Verbesserungsgarantie mit
sich bringt und sogar umgekehrt
das Risiko der Totalkatastrophe
in sich birgt. Ein Streben in die
Zukunft hält damit nicht eine Verbesserungsgarantie
bereit, damit
verliert die Zeitvorstellung ihre
normative Funktion.

Im Diskurs über die Postmoderne
wird deutlich, dass unter anderem
die zunehmende systemische
Differenzierung Einfluss auf die
Normativität der Zeit besitzt. Wenn
in der Industriegesellschaft die
Norm für den Zeitnutzen noch beispielsweise
in Korrelation mit der
Produktivität gesehen wurde und
damit nur schichtenspezifisch differenziert
wurde, so existiert in
einer postmodernen Gesellschaft
eine situationsspezifische Differenzierung,
wobei die Anzahl von möglichen
Situationen unbegrenzt ist
(Elisaveta Siglova). Hieraus ergibt
sich die Forderung an das Individuum,
situativ und flexibel mit den
verschiedenen Zeitauffassungen
umgehen zu können, um Entscheidungen
und Bewertungen vornehmen
zu können.

Die Zeitkollage als Form des postmodernen Zeitverständnisses

Eine herausragende Bedeutung
kommt dabei der Reflexion über
Zeit zu. Da kaum noch gesellschaftlich
selbstverständliche Zeitverständnisse
existieren, welche die
Zeit deuten, wird die Konstruktion einer zeitlichen Ordnung zur Aufgabe
des Individuums. Während
einzelne Bausteine, das heißt Ereignisse
oder Perioden, bei unterschiedlichen
Menschen oder Systemen
korrespondieren, bleibt der
Aufbau und die Auswahl einzigartig.
Folglich ist es die Leistung
des Individuums, aus dem vorherrschenden
Chaos zeitlicher Produkte,
die nicht einmal aneinander
gebunden sein müssen, ein sinnerfülltes,
zusammenhängendes
Konstrukt zu erschaffen. Elisaveta
Sigalova bezeichnet in Anlehnung
an Lévi-Strauss‘ Idee von „bricolage“
die Zeit in der Postmoderne als
Zeitkollage. Sie charakterisiert die
Zeitkollage als ein individuell gelebtes
Konzept, das von Individuen
bewusst und refl exiv zusammengesetzt
wird. Dabei kann der Mensch
je nach Situation auf bereits bestehende
Rhythmen und Routinen
zurückgreifen, aber auch kreativ
neu erschaffen. Ferner darf das Individuum
nicht davon ausgehen,
dass die Kollage stets unverändert
bestehen bleibt, da ihre einzelnen
Teile auf die Zukunft gesehen kaum
planbar und vorhersehbar sind. Die
Lebensführung als kreative und refl
exive Aufgabe des Individuums in
Form einer zeitlichen Selbstvergewisserung
bleibt im Gedanken der
Postmoderne eine lebenslange Aufgabe.

Die Kurzdarstellung des Lieds
„Octavarium“ liefert deutliche Hinweise
auf einen solchen kreativen
Prozess, indem zur Deutung des Gewesenen
schon existente Rhythmen
verwendet werden. Wie oben bereits
aufgezeigt, handelt es sich dabei
um das Motiv eines zyklischen
Rhythmus. Die ersten beiden Teile
des Lieds veranschaulichen das
Motiv durch eine Erzählung, während
der dritte Teil dies durch die
Aufnahme unzähliger Bruchstücke
aus der neueren Musikgeschichte
verwirklicht. Es sind Stücke, die
Dream Theater inspirierten, während
sie feststellten, dass sie selbst
zur Quelle der Inspiration für andere geworden sind, auch wenn das
niemals beabsichtigt gewesen war
(siehe Teil 1). Es bleibt abschließend
die Erkenntnis, dass man in
dieser Entwicklung gefangen ist,
selbst wenn man sein Leben in die
Hand nehmen möchte. Trotz aller
Bemühungen (Medikamente in Teil
2 oder Ende von Teil 3) kehrt man
stets an den Anfang zurück.

Die aus dem Verständnis der
Postmoderne erwachsene Sicht,
dass im Werk „Octavarium“ eine
kreative Leistung der Gruppe zu
sehen ist, die eine zusammenhängende
Zeitkollage ihres Musikerdaseins
zeichnen möchte, impliziert
auch, dass sich die Gültigkeit
dieser Deutung nur auf das mit
ihr verknüpfte System zu einem
bestimmten Zeitpunkt erstreckt.
Damit kommt dem Motiv der zyklischen
Zeitvorstellung ein nur situativer
Charakter zu, nämlich die
Deutung der Vergangenheit aus der
zum Zeitpunkt der Komposition
des Werks eingenommene Perspektive.
Ferner betrifft dieses situativ
gültige Zeitverständnis nur das
System des Musikerdaseins und
verfügt über keine umfassend existentielle
Deutungshoheit. In diesen
beiden Punkten unterscheidet
sich ein zyklisches Deutungsmotiv
der Zeit im postmodernen Denken
grundsätzlich von anderen kreisläufi
gen Zeitverständnissen in Mythen
und Religionen, die stets kosmologische
Geltung besitzen.

Die Situation zur Zeit der Komposition
des Werks „Octavarium“
macht dies deutlich. Denn es war
das letzte vertraglich zugesicherte
Album der Gruppe, das unter dem
damaligen Label vertrieben wurde.
Dream Theater sahen einem Punkt
entgegen, der einmal ihr Anfangspunkt
gewesen war: eine Musikgruppe
ohne Vertrag zu sein. Bevor
Dream Theater später bei einem
anderen Verlag unterschrieben,
wurde auf Grund der Textzeile „the
story ends where it began“ vielfach
diskutiert, ob es zu einer Aufl ösung
kommen würde – dem war nicht so. Doch zeigte sich fünf Jahre später
die situative Gültigkeit einer Deutung
der Wiederkehr des bereits
Gewesenen: Gründungsmitglied
Mike Portnoy verließ Dream Theater
im Jahr 2010.