Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Katharinas Reisetasche: Wer Armut gelobt hat, hat kein großes Gepäck ... Von Zweckmäßigkeit zeugen alle persönlichen Gegenstände Katharinas. Für sie gilt: Die Schlichtheit eines einfachen Lebensstils hält den Blick auf Gott frei.

Sich von der Not der Anderen berühren lassen

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing beim Bistumsfest zur Heiligsprechung von Katharina Kasper

Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
Schwestern und Brüder im Glauben,
gerade mal 40 Kilometer macht die
Strecke von Waldbreitbach bis Montabaur
aus. Dem Höhenzug des Westerwaldes entlang
liegen viele kleine und größere Ortschaften.
Die raue Landschaft, über die
nicht selten der gern besungene „kalte Wind“
pfeift, „brachte im Laufe der Zeit einen rauen,
verschlossenen, aber selbständigen Menschenschlag
hervor, dessen Temperament
nicht frei erscheint von bisweilen starken
Gefühlsbewegungen“ (E. M. Buxbaum, Peter
Lötschert genannt Bruder Ignatius, Kehl
1995, 6). So lese ich in einer kleinen Schrift
und finde die Beschreibung für mich und andere
Westerwälder Männer und Frauen einigermaßen
passend.

40 Kilometer, die es in sich haben. Denn
hier geschah im 19. Jahrhundert Außergewöhnliches.
Ordensgemeinschaften im
Dienst der Armen und Kranken blühten innerhalb
weniger Jahre in einer Dichte auf,
die ihresgleichen sucht. Die Gründergestalten
wurden allesamt innerhalb eines
Jahrzehntes geboren: Peter Friedhofen in
Weitersburg, Peter Lötschert in Höhr, Rosa
Flesch in Schönstatt, Jakobus Wirth in Niederbreitbach
und Katharina Kasper in Dernbach.
Sie haben sich gekannt und Kontakt
miteinander gepflegt. Mittlerweile sind zwei
Selige und nun eine Heilige darunter. Katharina
Kasper, die einfache Frau aus armen
Verhältnissen, die ihr Leben für Arme, Kranke,
Kinder und ihre Schwestern eingesetzt
hat, ist keine „einsame Spitze“. Sie ist und
bleibt eine von uns – eingebettet in die Bewegung
eines regelrechten „karitativ-kirchlichen
Frühlings“ (Erwin Gatz) in ihrer Zeit.

Damit war keineswegs selbstverständlich
zu rechnen. Nur wenige Jahrzehnte zuvor
war die alte feudale Gesellschaftsstruktur
in den Wirren der Französischen Revolution
und den nachfolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen
untergegangen. Nicht
nur die Gesellschaft musste sich neu ordnen,
Staat und Kirche sich neu organisieren,
auch das Bildungswesen, die Armen- und
Krankenfürsorge mussten sozusagen aus
dem Nichts wieder aufgebaut werden. Denn
deren Träger, die alten Orden, waren durch
die Säkularisation aufgelöst. Missernten
und Hungersnöte führten im Westerwald
und in weiten Landstrichen zu bitterer Armut
und sozialem Elend. Viele wanderten
aus. Wer nur irgendwie konnte, verließ die
Heimat mit der Idee, auf diese Weise auch
die Armut hinter sich zu lassen. Man kann
das nur allzu gut verstehen. Die aufkommende
Industrialisierung zog Menschen wie
ein Magnet in die Ballungsräume. Der Westerwald
gehörte nicht dazu. Hier blieben die, die nicht weg konnten, vielfach Frauen
mit ihren Kindern, die armen Bauern auf ihrem
Grund und Boden, Alte und Kranke. Für
eine junge Frau wie Katharina wäre es der
natürlichste Impuls gewesen, sich aus der
Armut heraus zu kämpfen und anderswo ihr
Glück zu suchen. Aber sie blieb und wählte
freiwillige Armut. Sie stieg in die Verwahrlosung
vieler Menschen ein und packte sie von
innen heraus an. Junge Frauen aus der Umgebung
schlossen sich ihr an. Mit 22 Jahren
gründen sie einen „frommen Verein“ mit dem
erklärten Zweck, der „Ausbreitung der Tugend
durch Beispiel, Belehrung und Gebet“
(1. Ordensregel) zu dienen. Sie spürte, wie
„verrückt“ das alles nach objektiven Maßstäben
erscheinen musste. „Wäre ich nur
verrückt“, bekannte sie ihrer Mutter einmal,
vielleicht hätte das manches einfacher gemacht.
Aber das war sie ganz und gar nicht.
„Um diese Zeit erkannte ich, dass Gott etwas
Besonderes von mir verlangte und dass
ich die Armen und Kranken pflegen sollte“,
schreibt sie.

Das, liebe Schwestern und Brüder, ist das
„Wunder von Dernbach“: Der Mut einer jungen
Frau, nicht zu fliehen, sich der Not und
Verantwortung nicht zu entziehen, sondern
in sie einzusteigen und sie zu wenden. So ist
Katharina, und so sind ihre vielen Schwestern
bis heute zum Segen für die Menschen
geworden. „Beispiel, Belehrung und Gebet“,
heute heißt das: eine Suppenküche in Mexiko,
in Nigeria eine Ambulanz, ein College in
den USA, Unterricht in Kenia, Engagement
für die Menschenrechte von Frauen und
Mädchen, Internate in Indien, Bibel-Teilen
in kleinen Gruppen, Tanz und Gebet und Gemeinschaftsleben.
Ein wahres Wunder. Ein
einziger Mensch, der anfängt und einsteigt,
verändert mit der Zeit unglaublich viel für
unendlich Viele.

Woher nahm Katharina den Mut? Nachdem
wir die biblischen Lesungen am heutigen
Sonntag gehört haben, ist das für mich
keine Frage: Sie hat sich Jesus als Vorbild
genommen: einen, der mitfühlt mit unserer
Schwäche. Es ist eine steile These, die der
Hebräerbrief aufstellt. Jesus, der in seinem
Leben nicht zur Priesterschaft gehört hat, ist
doch der einzig wahre Priester. Sein Mitfühlen
mit all unserer menschlichen Schwachheit
hat den Himmel und die Erde wieder
miteinander verbunden. Das nennen wir Erlösung.
Weil er einer von uns geworden ist,
darum konnte er uns retten. Wenn das so ist, liebe Schwestern und Brüder, wenn das Mitfühlen
des Sohnes Gottes den Himmel zur Erde gebracht hat,
dann darf man wohl auch sagen, dass Fühllosigkeit
die Hölle ist. Immer wieder kritisiert unser Papst die
Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit unserer Gesellschaft
angesichts der Not der Menschen in großen
Teilen der Welt als das Unglück unserer Zeit.

Ein einziger Mensch, der anfängt,
verändert mit der Zeit unglaublich
viel für unendlich Viele.

Bischof Georg Bätzing

Sich berühren lassen von der Not der Anderen, das
verändert alles. Das weiß auch der Prophet Jesaja, der
in vier Anläufen von der geheimnisvollen Gestalt des
Knechtes Gottes spricht. Damit lockt er die gläubigen
Israels auf eine ganz neue Spur, Gott und die Welt zu
verstehen. Im Plan Gottes werden stark und schwach,
Macht und Ohnmacht in ihren Wirkungen geradezu
auf den Kopf gestellt. Das Schwache ist plötzlich obenauf
in den Augen Gottes. Hingeben macht groß, nicht
Macht und Reichtum. Jesus wird das in den Seligpreisungen
der Bergpredigt an vielen weiteren Lebenslagen
durchbuchstabieren. Und da steht Katharina mit
ihrer „Verrücktheit“ in guter Gesellschaft. Christen
und Christinnen stellen die üblichen Maßstäbe
dieser Welt immer wieder auf den Kopf. Jeder,
der der Spur Jesu folgt, ist schon ein wenig
„verrückt“. Das war damals nicht anders
als heute. Hören Sie das nicht auch
immer wieder, liebe Schwestern und
Brüder, dass man schon „schräg und
abgedreht“ sein muss, heute noch
„zu diesem Verein zu gehören“? Katharina
und ihr Lebenswerk bestärken
mich darin, dass es die richtige
Entscheidung ist, den Glauben zu
wählen.

Und das auch angesichts der Skandale,
die viele Menschen zu Recht irritieren
und abstoßen. Es gibt Machtmissbrauch
mitten in der Kirche. Es
gibt Unterdrückung und Unrecht – strukturell und im
verbrecherischen Handeln einzelner. Jesus hat schon
die Zwölf ganz am Anfang davor gewarnt: „Bei euch
… soll es nicht so sein“. Denn eine Kirche, die sich in
Machtkämpfen, klerikaler Selbstherrlichkeit und im
Missbrauch von Kleinen und Schutzbedürftigen gehen
lässt, ist einfach nur zum Davonlaufen. „Wer bei euch
groß sein will, der soll euer Diener sein“ (Mk 10,43).

Katharina hat Jesus beim Wort genommen. Und sie
ist in seiner Spur geblieben. Das macht sie „heilig“.
„Nichts Außergewöhnliches verlangt der liebe Gott
von uns“, schreibt sie, „aber unser ganzes Herz.“ Für
mich sind ihre ausgetretenen Schuhe sprechende Reliquien.
Da muss man nichts erklären. Das versteht
jedes Kind. Jeden Morgen ist diese Frau in die Schuhe
gestiegen, um sich auf den Weg zum Dienst zu machen.
Einsteigen und verändern. Katharina hat Jesus
wirklich verstanden.

Locker leicht war das wirklich nicht immer. Und
das ist es heute auch nicht. Christ sein, Zeugnis geben,
dienen, armselige Zustände verändern, dem Evangelium
folgen durch „Beispiel, Belehrung und Gebet“, dazu
braucht es Rückgrat und besondere Haltungen. Das fällt nicht einfach vom Himmel. Das will täglich geübt
und miteinander errungen sein. In seinem Schreiben
über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute
(Apostolisches Schreiben „Gaudete et exultate“ vom
19. März 2018) spricht der Papst über unsere Sendung
und Bewährung im Alltag, auch in den kleinen Dingen.
Er nennt Grenzen und Gefahren der heutigen Kultur:
„die nervöse und heftige Unruhe, die uns zerstreut und
schwächt; die negative Einstellung und die Traurigkeit;
die bequeme, konsumorientierte und egoistische
Trägheit; den Individualismus und viele Formen einer
falschen Spiritualität ohne Gottesbegegnung, die den
aktuellen Religionsmarkt beherrschen“. Dagegen stellt
Papst Franziskus „fünf große Bekundungen der Liebe
zu Gott und zum Nächsten“: 1. Durchhaltevermögen,
Geduld und Sanftmut, 2. Freude und Sinn für Humor,
3. Wagemut und Eifer, 4. in Gemeinschaft, 5. in beständigem
Gebet (Gaudete et exultate, Nr. 111ff).

Jeder, der der Spur Jesu folgt,
ist schon ein wenig verrückt.

Bischof Georg Bätzing

Liebe Schwestern und Brüder, das beschreibt doch
genau das Charisma von Maria Katharina Kasper. So
hat sie gelebt und geglaubt. Diese Haltungen hat sie
gesucht und in sich ausgeprägt mit Gottes Hilfe. Sie
gibt uns mit ihrem Leben „Beispiel und Belehrung“.
Und ihre Fürsprache wird uns helfen, unsere Sendung
und unseren Auftrag zu erfüllen. „Heilige Katharina,
nimm uns an der Hand und führ uns zur Quelle der
Freude.“