Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Szenenbild aus dem Theaterstück „Gott“ von Ferdinand von Schierach, Berliner Ensemble - Foto: Matthias Horn

Ach Gott – Ein Stoßseufzer

Wahrheit ist keine Frage der Abstimmung. Anmerkungen zu Ferdinand von Schirachs Theaterstück GOTT

Nachdem Brechts „unwürdige Greisin“ ihr
ganzes Leben für die Familie gesorgt und
selbstlos all ihre Pflichten erfüllt hat, nimmt
sie nach dem Tod ihres Mannes ein selbstbestimmtes
Leben auf. In dieser letzten Lebensphase macht
sie keine Kompromisse mehr und entzieht sich der sozialen
Kontrolle ihrer Umwelt, indem sie nachts spazieren
geht, interessante Leute besucht, ins Kino geht,
im Gasthaus isst und regelmäßig ihr Gläschen Rotwein
genießt. Brechts Erzählung zeigt eine Person, die
auf bescheidene und zugleich konsequente Weise ihre
Autonomie zurückgewonnen hat. Sie stirbt alt und
lebenssatt. Brecht präsentiert uns keine unwürdige,
sondern eine würdige Greisin. Die Geschichte endet
mit dem schönen Satz: „Sie hatte die langen Jahre der
Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet
und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf
den letzten Brosamen.“

Sie ist das Gegenmodell zu Ferdinand v. Schirachs
Figur Richard Gärtner aus dem Theaterstück „Gott“,
das im deutschsprachigen Bereich an dreizehn Theatern
von Bozen bis Hamburg-Altona aufgeführt wird.
Für Richard Gärtner ist das Leben nach dem Tod
seiner Frau sinnlos geworden. Obwohl er körperlich und geistig kerngesund ist, strebt er einen „sauberen“
Tod mit Hilfe einer medizinischen Suizidbegleitung
an und will sich das Recht auf ein selbstbestimmtes
Ende vor Gericht erstreiten. Er will keine Kraft aufbringen,
seine letzte Lebenszeit noch einmal selbst
neu zu gestalten, die „futurische Energie“ der Greisin
geht ihm ganz und gar ab. Ihn interessiert kein Buch
mehr, kein Film, keine Unterhaltung. Er hält sein Lebensbrot
für vollständig aufgezehrt. Seinen Begriff
von Autonomie formuliert er so: „In diesem Land leben
freie Menschen, sie können und dürfen über ihr
Leben und ihr Sterben selbst entscheiden. Wenn einem
vernünftigen Menschen das eigene Leben nicht
mehr lebenswert ist, muss sein Sterbewunsch respektiert
werden (S.71).“ Im Gegensatz zur lebenssatten
Greisin müssen wir uns Richard Gärtner als einen lebensmüden
Mann vorstellen. Lebenssatt oder lebensmüde,
das ist ein Unterschied.

Wenn man einmal von der Geschäftstüchtigkeit und
der Vermarktungsstrategie von Autor und Verlag absieht,
so stellt sich dennoch die inhaltliche Frage, warum
Ferdinand v. Schirachs Stück in der Öffentlichkeit
eine so breite Aufmerksamkeit erfährt. Während der
Todeswunsch unheilbar Kranker und Leidender auf großes Verständnis und Mitleid in der Bevölkerung
zählen kann, spitzt das Stück die Thematik zu, weil es
um einen physisch und psychisch kerngesunden alten
Mann geht, der aufgrund seiner inneren Leere sterben
will. So wird die Frage nach dem assistierten Suizid
auf den prinzipiellen Punkt geführt: Wem gehört unser
Leben und wer entscheidet über den Tod bzw. wer setzt
ihn ins Werk? Gott, der Arzt als Halbgott in Weiß, eine
Ethikkommission, die familiäre Erbengemeinschaft,
ein Sterbehilfeverein oder wir selbst? Die Argumente
der im Stück auftretenden Protagonisten der Ethikkommission
(neben dem Betroffenen und seiner Hausärztin
sind es ein Rechtsanwalt, ein medizinischer Sachverständiger,
eine Rechtssachverständige und ein Bischof
als theologischer Experte) sind vorhersehbar, sattsam
bekannt und werden brav nacheinander aufgesagt. Interessanterweise
kommt keins der erwachsenen Kinder
Gärtners direkt zu Wort. Das Verfahren erinnert
ein bisschen an die Ergebnissicherung schulischer arbeitsteiliger
Gruppenarbeit, bei der die verschiedenen
Argumente auf einzelne Gruppen verteilt und am Ende
von deren Vertretern/innen in einer „Talkshow“ präsentiert
werden. Inhaltlich ergibt sich im Stück nichts
Neues und dramaturgisch ist es langweilig, auch wenn am Ende die Zuschauer ihr Votum abgeben dürfen. Die
Stimmungsbilder des Theaterpublikums, die bisher in
fünf Theatern abgerufen wurden, tendieren zur absoluten
Souveränität des einzelnen Individuums und
stimmen dem Todeswunsch zu. Richard Gärtner soll
sterben dürfen. Die Voten bewegen sich überwiegend
im zustimmenden Bereich zwischen 50% und 70%, nur
einmal wurden knapp 40% gezählt. Das Arrangement
des Theaterstücks legt ein solches Ergebnis nahe, denn
alle, die sich in dieser Sache skeptisch äußern – und
das gilt für das Mitglied der Bundesärztekammer genauso
wie für den katholischen Bischof – sehen im
Stück „alt“ aus, weil sie in sophistischer Manier aufs
Glatteis geführt werden bzw. weil sie sich nicht mehr
verständlich machen können. Im Hinblick auf die
Wahrheitsfrage ist das jedoch nicht entscheidend. Der
hippokratische Eid wird im Stück genauso relativiert
und ins Lächerliche gezogen wie der religiöse Glaube.
Dabei sind die Grenzen des Arztes und des Gläubigen
ähnlich: Der Arzt darf einem Kranken niemals Schaden
zufügen und über Leben und Tod entscheiden, so wie
der Gläubige Gottes Souveränität über Leben und Tod
nicht durch Selbstmord zurückweisen darf. Das ist bei
Schirach aber alles „old school“.

In Brechts Modell des Lehrtheaters soll das Publikum
idealerweise zum Mithandeln animiert werden.
Statt illusioniert zu werden, soll es – im Fall Brechts
– politisch aufgeklärt werden und an diesem Prozess
aktiv teilnehmen und Stellung beziehen. Die verschiedenen
praktisch-theatralen Verfremdungseffekte sollen
diesen Vorgang katalysieren. Brecht findet dafür
das Wortspiel Theater-Thaeter. Wenn das Theater als
revolutionäre Anstalt begriffen wird, müsste sich die
Gesellschaft verändern, das war Brechts Hoffnung. Es
wird dann Thaeter im Sinne des marxistischen Fortschrittsbegriffs.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als
ob die Abstimmung des Publikums in „Gott“ eine epigonale
Brecht‘sche Masche Schirachs ist.

Schirach hat in seinem älteren Stück „Terror“ die
utilitaristische Frage behandelt, ob das größte Glück
der größten Zahl der Maßstab sittlichen Handelns
sein kann. Darf ein mit Passagieren besetztes Flugzeug
vom Militär abgeschossen werden, wenn Terroristen
es über einem Fußballstadion mit einigen tausend
Zuschauern abstürzen lassen wollen? Auch hier
dürfen die Theaterbesucher am Ende darüber abstimmen,
ob derjenige richtig gehandelt hat, der das Flugzeug
abschoss, oder ob er verurteilt werden muss.

Eine Abstimmung gibt populäres Volksempfinden
wieder. Sie ist eine Meinung und keine Empfehlung an
den Gesetzgeber. Ist dem Publikum wirklich klar, dass
es durch die Abstimmung in eine hypothetische Dilemmasituation
geführt wird, aus der es kein Entrinnen
gibt, egal ob der Daumen hoch- oder runtergeht?
Wer dafür ist, dass Ärzte beim Suizid assistieren dürfen,
muss in Kauf nehmen, dass gesellschaftliche, soziale
und religiöse Werterosionen die Freigabe der autonomen
Entscheidung über Leben und Tod zeitigen
könnten. Wer kann da noch sicher sein? Wer dies jedoch
verweigert, muss in Kauf nehmen, dass der Sterbewillige
unter Umständen weiter leidet, falls keine
ausreichende Palliativmedizin zur Verfügung steht. In
„Gott“ ist das aber nicht das Problem. Das Interesse
an diesem Thema kann als säkularisierte Variante von
Kants Grundfrage „Was dürfen wir hoffen“ angesehen
werden, denn hier geht es um Gott, Seele, Freiheit, Unsterblichkeit.
Sie ist unabweisbar und wird auch von
eingefleischten Hedonisten gestellt. Von Gott, Seele, Unsterblichkeit bleibt bei ihnen nur die Freiheit im
Sinne absoluter Autonomie übrig. Wer alles Lebensbrot
auf einmal verzehrt hat, wird keine Brosamen
mehr auflesen. Er will alles oder nichts und das alles
zugleich im Jetzt und Hier und verstellt sich den Blick
in die Zukunft. Er ist, um mit Goethes Mephisto zu
sprechen, der „kleine Gott der Welt“, der nichts aufschieben
kann. Danach gibt es nichts. Der Suizid setzt
den Schlusspunkt unter dieses quasi göttliche Selbstgefühl.
Und darüber soll abgestimmt werden? Peter
Szondi, Adorno und andere haben die Beteiligung des
Publikums als eine raffinierte Strategie durchschaut,
ihm das Gefühl zu geben, es sei aufgeklärt, obwohl es
in Wirklichkeit indoktriniert wird.

Was ist also das höchste Gut? „Das muss jeder für
sich selbst entscheiden“ ist die meistgehörte Floskel,
mit der man sich allzu gern aus der Verantwortung
stiehlt. „Und wie würdest du tatsächlich entscheiden,
wenn du selbst unmittelbar betroffen wärest“, lautet
die Gegenfrage, die man dem jedem einzelnen Theaterbesucher
von Bozen bis Hamburg-Altona gern einmal
individuell gestellt hätte.