Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Foto: Förster & Borries GmbH, Jörg Haustein, Zwickau

Anderen beistehen

Horst Sakulowskis Gedenkblatt für den Häftling mit der Nummer 49642

Die christliche Ikonografie kennt eine Unzahl
an Darstellungen von Märtyrern. Die Folterknechte
verrichten ihr blutiges Un-Werk, doch
die unschuldigen Opfer verlieren niemals ihre Würde,
weil Gott sie bereits ins Recht gesetzt hat. Blutzeugen
gibt es noch heute; sie werden getötet, weil sie
ihr eigenes Leben für ein gemeinsames Leben in Menschenwürde
und Freiheit einsetzen. Märtyrern kann
durch ein Bildwerk, das ihr Leid realistisch darstellt
und den Betrachter berührt, ein künstlerisches Epitaph
errichtet werden. Einen anderen Weg wählt der
Bildkünstler Horst Sakulowski, der mit dem Graphitstift
ein sur-realistisches Gedenkblatt gezeichnet hat.

Was zu sehen ist

Vor einem gänzlich unbestimmten Hintergrund
schwebt eine Jacke mit auffälligen Längstreifen; sie
erinnern an die Sträflingskleidung in nationalsozialistischen
Konzentrationslagern. Ein Windzug hat die
Häftlingsjacke aufgebläht. Sie kommt uns entgegen,
gewissermaßen kopfüber, wie der halbrunde Kragen
suggeriert. Und dort, wo üblicherweise der Kopf sitzt,
sehen wir nur Leere, genauer: ein dunkles, liegendes
Oval, das von einem oben einbrechenden Lichtstrahl
aufgehellt wird. Dieser Strahl kommt von außerhalb;
er fällt schräg in das Bild hinein und erleuchtet den
fehlenden Kopf und Teile der Jacke. Die Jacke mitsamt
den leicht nach oben gebogenen Ärmeln bilden die
Form eines Tau-Kreuzes, dem sein Corpus fehlt. Wo
die beiden Hände herausschauen müssten, befinden
sich zwei Leerstellen: herabhängender Stoff und auf
jeder Seite ein kräftiger dunkler Fleck mit herabrinnenden
Schlieren.

Ins Auge fällt der dreieckige Winkel mit der Ziffer
49642 auf der linken Außenseite der Jacke. Weniger
auffällig ist der diagonale, in der Mitte breitere Strich,
der unten auf der rechten Innenseite der Jacke zu erkennen
ist. In der unteren Bildhälfte befinden sich
eine Fülle zarter, leicht geschwungener Linien. Sie
gehen von den herabhängenden Stofffetzen und dem
Dreieckswinkel aus und streben aus dem Bild heraus.

»Reliquie«

So betitelt der Zeichner sein Bild. »Reliquien« sind
nach der Begriffsbestimmung von Karl Rahner und
Herbert Vorgrimler »sterbliche Überreste von Heiligen,
die von der Kirche ehrerbietig verwahrt u(nd)
mit einer gewissen (…) Verehrung umgeben werden«1.
In unserem Fall ist dies die verschlissene Jacke eines
KZ-Häftlings. Die Zebrakleidung bildet die Form eines
Tau-Kreuzes, wodurch der Künstler das Schicksal des
Häftlings mit der Nummer 49642 und das Schicksal
des gekreuzigten Jesus Christus verknüpft: Das Kreuz
ist nichts längst Vergangenes, denn Menschen müssen
es noch immer erleiden. Die beiden tropfenden Flecken
anstelle der Hände und der längliche Schnitt an
der Jacke sind drei diskrete Verweise auf die Wundmale
Jesu Christi an beiden Händen und an der Seite.
Freilich ist die Jacke keine anonyme Jacke, weil ihr
ja eine Nummer angeheftet ist. Bevor wir klären, von
wem diese schäbige Sträflingsuniform eine Reliquie
ist, sollen einige Hinweise über den Künstler informieren.

Der Künstler

Horst Sakulowski wird 1943 in Saalfeld in Thüringen
geboren. Dort macht er 1961 Abitur und 1961/62
eine Keramiklehre. Von 1962 bis 1967 studiert er an
der »Hochschule für Grafik und Buchkunst« in Leipzig,
u.a. bei dem für seine Historienbilder bekannten
Maler und Grafiker Bernhard Heisig. Mit der »Leipziger
Schule« teilt Sakulowski die Wertschätzung des künstlerischen Handwerks sowie die Orientierung
am Gegenständlichen und an der menschlichen Figur.
Das Zeichnen gilt ihm als »die elementarste Form der
künstlerischen Arbeit überhaupt«.

Nach Diplomabschluss und Heirat kehrt er zurück
nach Thüringen; er lebt und arbeitet seit 1967 als freischaffender
Künstler in Weida. Von 1974 bis 1989 ist
er Vorsitzender der Sektion Malerei/Grafik des »Verbandes
Bildender Künstler der DDR« im Bezirk Gera
und bemüht sich um tragfähige Kompromisse zwischen
offizieller Linie und künstlerischer Autonomie.
Die Wende und die damit verbundene existenzielle
Verunsicherung und Selbstvergewisserung geben seinem
Schaffen neuen künstlerischen Schub. Bei aller
Ernsthaftigkeit ist dem von einem christlichen Humanismus
geprägten Künstler ein skurriler Humor
eigen. Seine Arbeiten waren in vielen Ausstellungen
in Deutschland und darüber hinaus (etwa in Venedig,
Melbourne, Tokio und in den USA) zu sehen.

Der Häftling 49642: Richard Henkes

Der Name des Häftlings mit der Nummer 49642 ist
Richard Henkes. Er wird am 26. Mai 1900 in Ruppach
(heute Ruppach-Goldbach) im Westerwald geboren
und wächst mit acht Geschwistern in einer
katholischen Familie auf. Nach dem Besuch des Studienheims
des Pallottiner-Ordens in Vallendar und
desillusionierenden Erfahrungen in der Wehrmacht
tritt er nach dem Abitur 1919 in das Noviziat der Pallottiner
in Limburg ein. Hier studiert er Philosophie
und Theologie, ringt mit seiner Berufung und wird
1925 zum Priester geweiht. Der begeisternde Lehrer
und Seelsorger wirkt ab 1926 an Studienheimen der
Pallottiner in Vallendar und Alpen. 1931 wird er nach
Schlesien versetzt, wo die christlich motivierte Auseinandersetzung
mit dem Welt- und Menschenbild
des Nationalsozialismus zu einer weiteren Berufung
wird. 1941 nimmt ihn der Orden aus dem Schuldienst
und versetzt ihn als Pfarrer nach Strandorf im Hultschiner
Ländchen (heute Tschechien).

Am 8. April 1943 wird er wegen einer Predigt in
Branitz von der Gestapo verhaftet und nach kurzem
Gefängnisaufenthalt in das KZ Dachau verbracht.
Dort muss er wie andere Inhaftierte unter menschenunwürdigen
Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Er
lernt Tschechisch, um sich nach Kriegsende für die
Verständigung von Tschechen und Deutschen einsetzten
zu können. Ende 1944 bricht im KZ eine Typhusepidemie
aus. Der Pallottiner lässt sich impfen
und freiwillig in einem Quarantäneblock einschließen,
um Schwerkranken und Sterbenden als
Pfleger und Seelsorger beistehen zu können.
Nach etwa zehn Wochen infiziert er sich und
stirbt am 22. Februar 1945, 66 Tage vor der
Befreiung des KZs; Henkes wird zu einem
unfreiwilligen Märtyrer. Ein mitgefangener
Priester sorgt für die Einzelverbrennung des
Leichnams und die Sicherung der Asche, so
dass die Beisetzung am 7. Juni auf dem Pallottinerfriedhof
in Limburg erfolgen kann.
Ein knappes Dreivierteljahrhundert später
wird Pater Richard Henkes SAC am 17. September
2019 im Hohen Dom zu Limburg seliggesprochen.

Auftrag – Selbstauftrag

Die Anregung von »außen«, von Gesprächspartnern
aus dem Bistum Limburg, sich mit
dem Seligen Richard Henkes auseinanderzusetzen,
kann sich Sakulowski zu eigen
machen, weil enge inhaltliche Verbindungen
zu Grundthemen des eigenen Arbeitens – wie
Nachfolge Christi und (christlicher) Widerstand
gegen den Faschismus – bestehen. Lange
hat er nach einer künstlerisch adäquaten
Bildidee gesucht, für die er sich selbst einen
hohen Maßstab gesetzt hat. Der Verfasser
bekam einige Vorarbeiten zu Gesicht, die Sakulowski
freilich nicht genügten.

»Das Kreuz ist nichts
längst Vergangenes,
denn Menschen müssen es
noch immer erleiden«

Thomas Menges

Schließlich kam der eminente Zeichner
von Porträts und Selbstporträts zur Überzeugung,
den bereits vorhandenen Porträts
des Pallottiners kein weiteres hinzufügen
zu wollen. Er hat anderes im Sinn: eine surrealistische,
visionäre Darstellung, ein symbolisches
Gedenkblatt. Dabei lässt er sich,
wie die Signatur unten links – HSakulowski
75 Ü: 2020 – anzeigt, von einer wiederentdeckten
Zeichnung aus dem Jahr 1975 anregen.
Es handelt sich um ein Studienblatt für
das Gemälde »Konfrontation«, das zum 450. Jahrestag der Schlacht bei Frankenhausen entstanden
ist und an die Opfer der Bauernkriege – symbolisch
dargestellt nur durch die Kleidung eines gekreuzigten
Bauern – erinnert. Durch die Überarbeitung gewinnt
die ältere Studie eine neue Bedeutung hinzu: Denn in
der vorliegenden Zeichnung wird Henkes‘ Widerstand
gegen den Nationalsozialismus, der ihm – ungewollt
– den Tod einbrachte, bildintern durch die Wundmale
und durch das von oben einbrechende Licht gedeutet:
Sein Leben war Nachfolge Christi, deshalb trägt
die Sträflingsjacke die Stigmata Christi; sein Tod war
nicht sinnlos, denn das Licht Gottes fällt auf ihn!

Die Fäden aufgreifen

Anders als auf der Studie, aber ähnlich wie auf anderen
Zeichnungen hat Sakulowski der »Reliquie« die
zarten, an der Sträflingsjacke befestigten Linien hinzugefügt,
die allesamt aus dem Bildgeschehen heraus
hin zu uns Betrachtern führen. Sie können uns mahnen
– wie Richard Henkes – eine klare »Unterscheidung
der Geister« (1 Kor 12,10; 1 Joh 4,1) zu treffen,
uns gegen verdeckten oder offenen Rassismus und
Antisemitismus zu stellen und so für die Menschenwürde
und Freiheit aller Menschen einzutreten. Denn:
Keiner ist niemand.