Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Alexander Kluge: Das Buch der Kommentare

Einem geflügelten Wort eines der bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts (A.N. Whitehead) zufolge gleicht die Geschichte der abendländischen Philosophie einer Sammlung von Fußnoten zu Platon, sie sei ein einziger Kommentar zu diesem. Das heißt, sie erläutert die platonische Ideenlehre und macht sie verständlich, immer wieder neu und stets auf dem neuesten Stand der Forschung. Was so positiv klingt, hat aber auch fragwürdige Konsequenzen: In der Philosophie besteht demnach erstens ein geschlossener akademischer Bücherkreislauf von Kollege zu Kollege. Und zweitens herrscht in ihr eine Praxis des Textrecyclings vor, die das Interesse nach außen, an neuen Entwicklungen in der Welt, bremst, so dass die entstehenden Beiträge mehr als pure Literatur (l’art pour l’art) wirken denn eine Diskursqualität erlangen und Probleme bearbeiten. In neueren Disziplinen wie der Soziologie und Psychologie geht es weniger ambivalent (weil empirischer) zu, trotz der Präsenz eigener Klassiker.

Wie sieht es in der altehrwürdigen Theologie aus? Kann das so ganz anders sein als in der Philosophie und was bedeutet das für die Welt ihrer Kommentare in der Welt von heute? Droht der Religion zur Säkularisierung von außen gar eine (theologische) Sterilität von innen? Die Neuerscheinung von Alexander Kluge könnte helfen, ein Problembewusstsein für diese Fragen zu entwickeln, selbst wenn es kein theologisches Buch sein will, ja gerade deshalb.

Tatsächlich hat man es in der Theologie ebenfalls mit grundlegenden, ja sogar mit heiligen Texten zu tun, die entsprechend kommentiert werden – die geläufigen Bibelkommentare füllen mithin ganze Bibliotheken. Seltsamerweise gibt es z.B. in keiner Ausgabe des „Lexikons für Theologie und Kirche“ einen eigenen Eintrag zum Begriff des Kommentars; allzu selbstverständlich scheint vermutlich neben der Exegese diese Schriftauslegung: Weil das Was und Wer dieser Praxis immer schon feststehen, oszillieren seine Interpretationen im geschlossenen Sinnraum des Glaubens bzw. seines sozialen Milieus. Richtig ist: Man kann sich mit einem heiligen Text nicht viele Freiheiten erlauben, denn hier gibt es gewöhnlich eine religiöse Autorität und eine religiöse Tradition, die sich die Schlüssel zu seiner Auslegung vorbehalten. Nur besteht darin nicht schon die ganze Welt der Kommentare. Jeder Kommentar liefert nicht nur auf mehr oder weniger anonyme Weise nützliche Informationen über andere Texte (außerhalb von ihm – quasi Primärtexte), sondern er bietet auch nützliche Informationen zu sich selbst als einer Art Sekundärtext – schon das illustriert „Das Buch der Kommentare“ von Alexander Kluge durch seine „Arbeitsform des Sammelns“ (8); seine Welt der Kommentare richtet bunte Verweisungszusammenhänge ein und das lohnt sich sogar für die darin unerwähnt gebliebene Theologie und ihre Selbst- und Welterkenntnis.

Warum? Weil im „Buch der Kommentare“ über ebendiese aufgeklärt wird, ohne dabei die Welt von heute zu vergessen – im Gegenteil, hier wird in kommentierender Form die Welt zum Text mit all ihren aktuellen Themen wie Heimat, Migration, Klimakrise, und das ohne die eigenen Klassiker der intellektuellen Großproduktion wie Freud (171-216) und Habermas (217-294) zu ihren Gunsten unter den Tisch fallen zu lassen, sondern sie ebenso zu bedenken und zu kommentieren. Bei Alexander Kluge bekommt die „Lebenswelt der Worte“ (216) einen reichhaltigen Klang. Mit seinen Kommentaren und erst recht durch sie gelingt ihm die Erneuerung der (von Giuseppe Ungaretti beschworenen) Funktion des gesprochenen Wortes, nämlich eine Brücke zwischen dem Ewigen und Kurzlebigen zu bauen.

Man darf sich vielleicht bei der Sache der Kommentare mit weniger élan vital zufriedengeben. Aber soll man sich im Falle der Theologie nicht danach sehnen und es versuchen, um jedes Sterilitätsrisiko schon im Ansatz auszuschalten? Wie wichtig das wäre, zeigt sich zudem an einem Unterschied, der einen Unterschied macht, was ein theologischer Kommentar kann oder soll – und zwar je nachdem ob jene interpretative Abschließung so gut nach außen wie nach innen gelingt: In einer offenen Gesellschaft (der Moderne) muss man stets damit rechnen, dass sich Uneindeutigkeiten ergeben, Ambivalenzen einschleichen und Kritik nicht mehr nur Teil der literarisch-analytischen Methode, sondern kulturelles Selbstverständnis ist und von daher auf den Sinn und Gebrauch selbst von etablierten Zeichen zurückwirkt. Bei Walter Benjamin konnte man diesbezüglich bereits lernen: Während es dem Kommentar im klassischen Sinn darum geht, den Sachgehalt einer Aussage zu eruieren, ist der Kommentar im modernen Sinn einer Kritik fokussiert auf den Wahrheitsgehalt bzw. die entsprechende (Un-)Fähigkeit der Aussage.

Heute gilt weder das eine noch das andere, sondern etwas ganz anderes – der Kommentar als Form des Mitredens, als pures Existenzzeichen des Einzelnen (und das ist insofern für Alexander Kluge als unleugbaren Großintellektuellen keine Kür, sondern fast schon Pflichtübung), nämlich mithilfe des Kommentars den Diskurs zu befeuern und über das entsprechende Signal, sich selbst zu zeigen. Um dieses Mitreden geht es bei jedem „like/unlike“; es ist insofern bei jedem „post“ der Fall: Ein jeder „postet“, was das Zeug hält, damit er gesehen wird! Und das nicht nur auf Facebook & Co, sondern auch in der Wissenschaft; längst sind Preprint-Studien zitierfähig geworden und gehören zur wissenschaftlichen Praxis, nicht zuletzt, weil die Probleme dringlicher geworden sind, aber auch, um schon im Vorfeld ihrer Publikation genügend Aufmerksamkeit für den Autor her- bzw. sicherzustellen.

Daraus folgt: In einem solchen Kontext steht die Welt der Kommentare nicht mehr am Ende der Kommunikation (wie bei der Schriftauslegung), sondern am Anfang weiterer Kommunikation, wenn und insofern sie anschlussfähig sind. In dieser Welt ist das Fehlen von Metakommentaren deutlicher Hinweis auf fehlende Anschlussfähigkeit, die aber nicht nur die unkommentierten Kommentare betrifft, sondern auch die der Botschaft zugrunde liegende Sinnofferte bzw. der Versuch, den Text (z.B. der Bibel) zum Leben zu erwecken.

Was also tun, wenn Schriften (wie in der Religion), die verbindlich sein sollen, doch immer fremder werden, so dass man kaum ihren Wortlaut versteht? Bisher gab es (nicht zuletzt in der Theologie) vor allem zwei auf Homer und die Griechen zurückgehende Möglichkeiten: die grammatische und die allegorische Auslegung. Durch die Neuerscheinung von Alexander Kluge gibt es nunmehr eine dritte Alternative: die literarisch-diskursive Kommentierung. Mit ihr lässt sich heute nicht nur auf der Höhe der Zeit mitreden, sondern auch im Angesicht des Ganz Anderen, also auf der heiligen Schwelle des Fremden in der Welt und seiner religiösen wie profanen Offenbarungen.

Freilich müsste man dazu von der klassischen Vorstellung eines biblischen Textes als Weltentwurf umschalten auf die Welt von Intertexten, die untereinander auf sich verweisen und dadurch an Relevanz, ja Sinn gewinnen, woher sie auch kommen. Ein solches theologisches „Buch der Kommentare“ fehlt! Der „unruhige Garten der Seele“, von dem Kluge berichtet, existiert indes nicht nur vor den Toren der Kirche. Das ist heute nur allzu bekannt und wird nicht länger beschwiegen. Unbekannt geblieben ist bis jetzt, dass einem die Welt der Kommentare nicht nur auferlegt wird, sondern dass sie einem für Veränderungsprozesse selbst offensteht, wenn und insofern man bereit ist, am Funktionswandel des Kommentars teilzunehmen.

Merke: Kommentare sind und bleiben heute von großer Bedeutung, aber die Praxis des Kommentierens wird noch wichtiger als sie selbst – es reicht nicht mehr (in Form eines Kommentars) zu beschreiben, was für einen einmal gemeint war, heute kommt es darauf an, (über das Kommentieren) das, was gemeint ist, zu demonstrieren, den sozialen Sinn also in einem performativen Sprechakt selbst zu tun, sonst kommt kein Text von gestern in der Welt von heute an und kann beanspruchen, sie mitzuregieren. Schriftauslegung, die darauf verzichtet, zeichnet ein Bild von Religion, die sich der Säkularisierung längst ergeben hat. Die wahren Pegelstände einer Gesellschaft sind oftmals Sprachregelungen.

Unruhiger Garten der Seele
Berlin: Suhrkamp Verlag. 20221
398 Seiten m. farb. Abb.
32,00 €
ISBN 978-3-518-43024-8

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