Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Annette Kehnel: Wir konnten auch anders

Annette Kehnel (geb. 1963) ist Historikerin an der Universität Mannheim. Ihr Schwerpunkt ist die historische Anthropologie. In früheren Schriften hat sie sich mit dem Kloster Clonmacnoise in Irland und mit der franziskanischen Bewegung befasst.

Als Hans Carl von Carlowitz 1713 den Begriff der „Nachhaltigkeit“ notgedrungen in die Forstwirtschaft einführte, erfand er zwar einen neuen Begriff, aber die Praxis und Theorie nachhaltiger Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen gab es schon lange zuvor. Im Zuge der Moderne wurden die Theorien des 13. und 14. Jahrhunderts vergessen, und Kulturen der Bewirtschaftung, die viele Jahrhunderte lang funktioniert hatten, wurden im Namen des Fortschritts verdrängt. Das Ergebnis ist bekannt: Natürlicher Reichtum, wie z.B. die Artenvielfalt, schwindet, menschengemachte Katastrophen treten gehäuft auf, und die Verfasserin sieht voraus, dass die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg späteren Generationen als das „Jahrhundert der Vermüllung des Planeten“ in Erinnerung bleiben wird. Wir konnten einmal anders – und schon die 444 Anmerkungen des Buches deuten an, mit welcher Akribie sich die Autorin der vormodernen Geschichte der Nachhaltigkeit gewidmet hat.

In fünf Kapiteln stellt Annette Kehnel eine Fülle von Beispielen nachhaltigen Wirtschaftens im Mittelalter dar. So schafften es die Männer- und Frauenklöster, durch Teilen der Habe eine nachhaltige Bewirtschaftung ihrer Güter in relativ fairer Zusammenarbeit zu organisieren. Detailliert geht die Autorin auf die Bewegung der Beginen ein, Frauen-WGs, die es in vielen Städten vor allem im Westen Europas gab und die Schutz und Arbeitsmöglichkeiten anboten.

Im Mittelalter bedeutete „Abfall“ Verrat, unbrauchbare Waren und Verpackungen spielten keine Rolle. Dutzende Reparaturberufe – z.B. Kesselflicker, Flickschuster, Altplecker – hielten das Gerät instand, andere sorgten für die Wiederverwendung gebrauchten Materials. Im 15. Jahrhundert gab es eine erbitterte Konkurrenz der Lumpensammler, die das Ausgangsmaterial für die rasch wachsende Papierindustrie beschafften.

Eindrucksvoll schildert Kehnel, wie die „Monti di Pieta“ in den Städten des 15. und 16. Jahrhunderts Armen durch Pfandleihsysteme Mikrokredite verschafften, mit denen z.B. Bauern Saatgut und Schuster das benötigte Leder vorfinanzieren konnten. Die Vornehmsten der Städte stellten ihre Expertise als ehrenamtliche Vorstände der „Monti“ zur Verfügung, und die Prediger der Franziskaner und Dominikaner leisteten Lobbyarbeit. Es gab also nicht nur Almosen und Spitäler für die Mittellosen, sondern auch Starthilfen für Menschen, die in der Lage waren, sich eine Existenz aufzubauen – eine Idee, für deren Wiederentdeckung Muhammad Yunus 2006 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde.

Annette Kehnel beschreibt am Beispiel der berühmten „Pont d’Avignon“, wie im Mittelalter aufgrund der Initiative einer einzelnen Person, Bénézet, ein so komplexes Bauwerk wie eine 915 Meter lange Brücke durch Crowdfunding finanziert und in nur acht Jahren (1177-1185) verwirklicht werden konnte. Menschen, die Geld für das Gemeinwohl ausgaben, erwarteten, dass für ihre armen Seelen im Fegefeuer gebetet würde. Dieses „Ablass“ genannte Tauschgeschäft verband die Generationen und beruhte auf dem Glauben, dass dem Menschen nach seinem Tod Gebet noch nützen kann.

Schließlich geht das Buch auf verschiedene Denkrichtungen des Minimalismus von Diogenes bis zur franziskanischen Bewegung ein. Gerade die Franziskaner in ihrer Sorge um die Armen hatten ein waches Gespür dafür, wie eine gerechte Wirtschaft laufen sollte; Petrus Johannis Olivi (1247-1298) war in der Analyse des Marktes und der Funktion des Geldes seiner Zeit weit voraus; Luca Pacioli (1445-1517) erfand die doppelte Buchführung, Grundlage neuzeitlicher Kaufmannschaft.

Im Schlusskapitel wirft die Historikerin einen Blick auf unsere Zeit mit den Augen eines vormodernen Menschen. Eindrucksvoll ist ihre Analyse des Bildes „Das Schlaraffenland“ von Pieter Brueghel (1525-1569), in dem sich Ei, Gans und Schwein selbst den übersättigten Bewohnern servieren – eine Karikatur ungehemmten Konsums.

Die Fülle der Beispiele, von denen hier nur ein Bruchteil erwähnt werden konnte, bietet Anknüpfungen für den Religionsunterricht, etwa in der Form von Rechercheaufgaben: Gab es in unserer Gegend ein Kloster, einen Beginenhof, eine Franziskanergemeinschaft? Wie haben sie gewirtschaftet? Wer hat den Bau einer mittelalterlichen Brücke finanziert? Auch die Auseinandersetzung mit dem Motiv des Schlaraffenlandes dürfte sich lohnen und eine Diskussion der Frage, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht eine moderne Variante des Motivs sein könnte. Die Vergangenheit ist nicht einfach die Lösung unserer gegenwärtigen Probleme, wie die Romantik dachte; aber die Vormoderne bietet reichen Stoff, „Alternativlosigkeit“ in Frage zu stellen und sich Anregungen für neue Wege zu holen. Dafür ist Annette Kehnels Buch ein hervorragendes Materialangebot.

Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit
München. Blessing Verlag. 2021
488 Seiten
24,00 €
ISBN 978-3-89667-679-5

Annette Kehnel (geb. 1963) ist Historikerin an der Universität Mannheim. Ihr Schwerpunkt ist die historische Anthropologie. In früheren Schriften hat sie sich mit dem Kloster Clonmacnoise in Irland und mit der franziskanischen Bewegung befasst.

Als Hans Carl von Carlowitz 1713 den Begriff der „Nachhaltigkeit“ notgedrungen in die Forstwirtschaft einführte, erfand er zwar einen neuen Begriff, aber die Praxis und Theorie nachhaltiger Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen gab es schon lange zuvor. Im Zuge der Moderne wurden die Theorien des 13. und 14. Jahrhunderts vergessen, und Kulturen der Bewirtschaftung, die viele Jahrhunderte lang funktioniert hatten, wurden im Namen des Fortschritts verdrängt. Das Ergebnis ist bekannt: Natürlicher Reichtum, wie z.B. die Artenvielfalt, schwindet, menschengemachte Katastrophen treten gehäuft auf, und die Verfasserin sieht voraus, dass die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg späteren Generationen als das „Jahrhundert der Vermüllung des Planeten“ in Erinnerung bleiben wird. Wir konnten einmal anders – und schon die 444 Anmerkungen des Buches deuten an, mit welcher Akribie sich die Autorin der vormodernen Geschichte der Nachhaltigkeit gewidmet hat.

In fünf Kapiteln stellt Annette Kehnel eine Fülle von Beispielen nachhaltigen Wirtschaftens im Mittelalter dar. So schafften es die Männer- und Frauenklöster, durch Teilen der Habe eine nachhaltige Bewirtschaftung ihrer Güter in relativ fairer Zusammenarbeit zu organisieren. Detailliert geht die Autorin auf die Bewegung der Beginen ein, Frauen-WGs, die es in vielen Städten vor allem im Westen Europas gab und die Schutz und Arbeitsmöglichkeiten anboten.

Im Mittelalter bedeutete „Abfall“ Verrat, unbrauchbare Waren und Verpackungen spielten keine Rolle. Dutzende Reparaturberufe – z.B. Kesselflicker, Flickschuster, Altplecker – hielten das Gerät instand, andere sorgten für die Wiederverwendung gebrauchten Materials. Im 15. Jahrhundert gab es eine erbitterte Konkurrenz der Lumpensammler, die das Ausgangsmaterial für die rasch wachsende Papierindustrie beschafften.

Eindrucksvoll schildert Kehnel, wie die „Monti di Pieta“ in den Städten des 15. und 16. Jahrhunderts Armen durch Pfandleihsysteme Mikrokredite verschafften, mit denen z.B. Bauern Saatgut und Schuster das benötigte Leder vorfinanzieren konnten. Die Vornehmsten der Städte stellten ihre Expertise als ehrenamtliche Vorstände der „Monti“ zur Verfügung, und die Prediger der Franziskaner und Dominikaner leisteten Lobbyarbeit. Es gab also nicht nur Almosen und Spitäler für die Mittellosen, sondern auch Starthilfen für Menschen, die in der Lage waren, sich eine Existenz aufzubauen – eine Idee, für deren Wiederentdeckung Muhammad Yunus 2006 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde.

Annette Kehnel beschreibt am Beispiel der berühmten „Pont d’Avignon“, wie im Mittelalter aufgrund der Initiative einer einzelnen Person, Bénézet, ein so komplexes Bauwerk wie eine 915 Meter lange Brücke durch Crowdfunding finanziert und in nur acht Jahren (1177-1185) verwirklicht werden konnte. Menschen, die Geld für das Gemeinwohl ausgaben, erwarteten, dass für ihre armen Seelen im Fegefeuer gebetet würde. Dieses „Ablass“ genannte Tauschgeschäft verband die Generationen und beruhte auf dem Glauben, dass dem Menschen nach seinem Tod Gebet noch nützen kann.

Schließlich geht das Buch auf verschiedene Denkrichtungen des Minimalismus von Diogenes bis zur franziskanischen Bewegung ein. Gerade die Franziskaner in ihrer Sorge um die Armen hatten ein waches Gespür dafür, wie eine gerechte Wirtschaft laufen sollte; Petrus Johannis Olivi (1247-1298) war in der Analyse des Marktes und der Funktion des Geldes seiner Zeit weit voraus; Luca Pacioli (1445-1517) erfand die doppelte Buchführung, Grundlage neuzeitlicher Kaufmannschaft.

Im Schlusskapitel wirft die Historikerin einen Blick auf unsere Zeit mit den Augen eines vormodernen Menschen. Eindrucksvoll ist ihre Analyse des Bildes „Das Schlaraffenland“ von Pieter Brueghel (1525-1569), in dem sich Ei, Gans und Schwein selbst den übersättigten Bewohnern servieren – eine Karikatur ungehemmten Konsums.

Die Fülle der Beispiele, von denen hier nur ein Bruchteil erwähnt werden konnte, bietet Anknüpfungen für den Religionsunterricht, etwa in der Form von Rechercheaufgaben: Gab es in unserer Gegend ein Kloster, einen Beginenhof, eine Franziskanergemeinschaft? Wie haben sie gewirtschaftet? Wer hat den Bau einer mittelalterlichen Brücke finanziert? Auch die Auseinandersetzung mit dem Motiv des Schlaraffenlandes dürfte sich lohnen und eine Diskussion der Frage, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht eine moderne Variante des Motivs sein könnte. Die Vergangenheit ist nicht einfach die Lösung unserer gegenwärtigen Probleme, wie die Romantik dachte; aber die Vormoderne bietet reichen Stoff, „Alternativlosigkeit“ in Frage zu stellen und sich Anregungen für neue Wege zu holen. Dafür ist Annette Kehnels Buch ein hervorragendes Materialangebot.

Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit
München. Blessing Verlag. 2021
488 Seiten
24,00 €
ISBN 978-3-89667-679-5

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