Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Boris Groys: Philosophie der Sorge

Wer sich der „Philosophie der Sorge“ des deutsch-russischen Philosophen und Kunstkritikers Boris Groys widmet, wird in Sphären „hoher Luft“ entführt. In zwölf Kapiteln überfliegt dieser Essay verschiedene Gedankenlandschaften von Nietzsche über Hegel, Foucauld, Kojève, Caillois, Heidegger, Arendt bis Bogdanov. Wie die Aufzählung schon erkennen lässt, sind die Diskurspartner bis auf Hannah Arendt männlich. Und so wundert es nicht, dass die konkrete, überwiegend weibliche Sorgepraxis in Krankenhäusern, Altenheimen und anderen sozialen Einrichtungen nicht in den Blick kommt. Selbst das 10. Kapitel mit der Überschrift „Unter dem Blick der Putzfrau“ wirft keinen Blick auf die Frauen am unteren Sockel der genderhierarchischen Sorgepyramide, sondern beschäftigt sich mit dem Museum als Sorgeeinrichtung. Die Pointe, dass die Französische Revolution die Kontemplation Gottes als höchstes Lebensziel durch die Betrachtung „schöner“ materieller Objekte ersetzt habe, ist durchaus anregend. Man kann daraus, wie Groys, eine Parallele zwischen dem Museum und dem Krankenhaus ziehen, die unter Berufung auf Kojève zu dem Schluss führt, dass alle Menschen, die jemals gelebt haben, als Kunstwerke von den Toten auferstehen müssten und in einem Universalmuseum aufbewahrt werden sollten. Diese Idee erscheint angesichts von ins Unendliche wachsenden digitalen Speicherkapazitäten heute sogar durchaus realisierbar. In diesem Szenario wäre dann der Staat für die Auferstehung und das ewige Leben jedes Menschen verantwortlich. Diese nicht mehr nur partielle Biomacht (Foucauld), sondern totale Biopolitik wäre dann keine demokratische mehr – Kuratoren werden nicht gewählt –, vielmehr eine rein technologische. So führt im männlichen Diskurs der Blick nicht auf die Putzfrau, sondern über sie hinweg auf die technologische Machbarkeit der Unsterblichkeit, die, wenn schon nicht durch die Medizin gesichert, dann doch durch das Museum garantiert werden könnte.

Wie weit entfernt der Autor von tatsächlicher Sorgearbeit ist, zeigt sich in seiner Formulierung: „Wir wissen, was uns nach dem Ende unserer Arbeitstage erwartet – nicht das Paradies, sondern das Krankenhaus beziehungsweise das Museum“ (115). „Nein“, möchte man ihm entgegnen, „vor allem erwartet uns eine vielleicht jahrelange Pflegebedürftigkeit, ambulant oder stationär“. Und hier begegnen wir zu fast 90% Frauen, die uns umsorgen und dafür schlechter bezahlt werden als Männer, die sich um Maschinen oder Akten sorgen. Solche Differenzen aber bleiben in einem aufgeblähten Sorgebegriff, der sich auf alle gesellschaftlichen Tätigkeiten erstreckt, unbelichtet.

Unbelichtet bleibt in dieser Perspektive auch das weite Feld zwischen der Selbstsorge auf der einen Seite und den großen Sorgeinstitutionen, wie etwa Krankenhäusern, auf der anderen Seite. Der Raum der familialen Sorge, der freundschaftlichen oder nachbarschaftlichen Sorge um die „Nächsten“ wäre durchaus eines philosophischen Blicks würdig und hätte den Autor und manche seiner Gewährsmänner vor einigen ahistorischen Aussagen wie dieser bewahrt: „Das Sorgesystem verfolgt das Ziel, die Menschen gesund zu erhalten, damit sie weiter arbeiten können.“ (69) Entscheidend für das Entstehen der heutigen Sorgesysteme war das „Transzendieren“ der familialen Sorge um die Kranken und Schwachen hin zur universellen Sorge für alle „Mühseligen und Beladenen“. Die Gründe hierfür liegen aber mindestens zweieinhalb Jahrtausende zurück – weit vor dem Entstehen unserer modernen Arbeits- und Konsumgesellschaft. Die Sorgesysteme haben sich über Jahrhunderte kontinuierlich weiterentwickelt und werden es hoffentlich weiterhin tun.

Den in der diakonischen Arbeit Tätigen lassen die Gedankengänge von Groys ratlos zurück. Nach den Höhenflügen über dem Wortfeld der Sorge ist dem Philosophen bei der kritischen Frage nach den Weiterentwicklungen heutiger Sorgeeinrichtungen und Sorgearbeit offenbar die Luft ausgegangen. Wo alles zur Sorge wird, geraten die tatsächlich Sorgebedürftigen und die Sorgenden aus dem Blick. Es bleibt die Hoffnung, dass hier nicht der letzte philosophische Anlauf auf das Thema der Sorge genommen wurde.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Stauder
München: Claudius Verlag. 2022
144 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-532-62878-2

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