Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Byung-Chul Han: Vita contemplativa

Byung-Chul Han holt zum Frontalangriff gegen Hannah Arendt aus. Betitelt wird der knapp über 100 Seiten lange Kreuzzug mit „Vita contemplativa. Oder von der Untätigkeit“. Damit positioniert sich das kleine Büchlein von Anfang an klar als Gegenentwurf zu Hannah Arendts philosophischem Hauptwerk „Vita activa. Oder vom tätigen Leben“, erstmals erschienen 1958 auf Englisch und 1960 auf Deutsch. Dazu ein Blick auf Aufbau, Gestaltung und Inhalt des Werkes:

Der Band beinhaltet sechs kürzere Essays, die einzeln und in unterschiedlicher Reihenfolge gelesen werden können. Han arbeitet sich an unterschiedlichen Denkerinnen und Denkern ab, die am Ende in einen allzu bekannten Standardkanon eingeordnet werden können, der landläufig „Kontinentale Philosophie“ (Heidegger, Benjamin, Agamben) genannt wird. Die philosophischen Schnipsel werden, wie üblich in Hans Werken, mit aphoristischen Bruchstücken und wortgewandten Anklängen aus Literatur und Kunst verwoben.

Was vereint die Vielzahl an Referenzen nun für Byung-Chul Han? Sie alle (außer Hannah Arendt) erkannten den Sinn für die Untätigkeit, nämlich nicht als Unvermögen, Verweigerung oder Abwesenheit von Tätigkeit, sondern als das wichtigste Vermögen überhaupt: „Die Untätigkeit ist eine Glanzform der menschlichen Existenz.“ (9) Wer sich darunter ein Plädoyer für die Faulheit erhofft, wird enttäuscht. Untätigkeit, wie Han es in unser Leben zurückverlangt, ist alles andere als leicht, vor allem nicht für unsere Zeit. Vor dem Hintergrund einer stark pessimistischen Gegenwartsanalyse attestieren die sechs Essays unserem Leben den Verlust des Festlichen, Beschaulichen und Selbstlosen. Der gegenwärtige Turbokapitalismus habe uns zu vereinsamten Individuen gemacht, die sich manisch selbst optimieren und damit ausbeuten. Gleichzeitig ginge die jeweilige Selbstzerstörung Hand in Hand einher mit der Zerstörung des Planeten sowie dem Zerbrechen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Als Heilmittel gegen den kurz bevorstehenden Tod preist Han eine neue Politik der Untätigkeit, die, gewendet ins Leben des Einzelnen, bedeutet, dass wir wieder kontemplativ leben. Das heißt durchaus, dass wir wieder zu beten anfangen sollen, aber nicht unbedingt zu Gott. Auf jeden Fall müssen wir die Fähigkeit der Aufmerksamkeit zurückgewinnen, besonders für die Natur und ihren verborgenen Zauber. Den Tonfall des moralischen Imperativs gibt Han durchgehend selbst vor und gipfelt seine Forderung mit suggestiven „X ist Y“-Sätzen, z.B. „Der Wesenskern der Kultur ist ornamental“, „Die Wahrheit ist ein Beziehungsgeschehen“, „Schreiben ist immer Schreiben zum Tod“, „Das Kapital ist die Tätigkeit in Reinform“. Ob am Ende jede dieser dogmatischen Behauptungen, die in der Regel nicht sonderlich vertieft werden, einer genaueren Reflexion standhalten, sei den Leserinnen und Lesern selbst überlassen.

Ärgerlich wird Hans Schreibstil im fünften Essay zu Hannah Arendt, das er „Das Pathos des Handelns“ betitelt. Dieses beginnt mit einer schönen Beschreibung jüdischer Sabbattheologie, um dann aber in folgenden bizarren und untragbaren Satz überzugehen: „Obwohl Hannah Arendt eine jüdische Denkerin ist, fehlt ihrem Denken jede sabbatische Dimension.“ (76) Dann folgen 30 Seiten Absätze, die sehr ähnlich beginnen: „Arendt verdrängt“, „Arendt idealisiert“, „Arendt projiziert“. Han wendet hier ein altbekanntes Instrument der intellektuellen Unredlichkeit an. Er zitiert Arendt in längeren Passagen, um sie anschließend suggestiv umzudeuten und schließlich argumentativ zu vernichten. Er diagnostiziert zusammenfassend, dass Arendt einem Fanatismus der Aktivität und einer Fetischisierung des Neuen folgte und dadurch für soziale Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch gänzlich blind geworden wäre. Erst die Rückbesinnung auf die Kontemplation und die Untätigkeit würden auch unsere Blindheit wieder aufheben können. Am Ende des fünften Essays wird Arendt dann noch zur unfreiwilligen Wegbereiterin für Han: „So schließt Arendt ihr Buch Vita activa unbeabsichtigt mit einem Lob der vita contemplativa.“ (102)

Ironischerweise endet Hans Buch mit dem sechsten Essay letztlich auch mit einem Lob des Neuen und der Tätigkeit, nämlich mit dem Ethos der Freundlichkeit, der sich gerade in freundlichen Handlungen, im „Fremdlinge-Zusammenbringen“ zeige, wie Han selbst mit Novalis beispielhaft anführt. Ein Ethos der Freundlichkeit wäre nicht zuletzt in Hans Arendt-Lektüre schön und mehr als angemessen gewesen. Eine Reflexion, wie unsere Leben kontemplativer werden könnte und warum uns das guttut, ist beim Lesen allerdings keinesfalls ausgeschlossen; auch wenn nicht immer auf ein allzu plattes Schwarz-Weiß-Malen von böser Aktivität und zärtlichem Nichtstun verzichtet wird.

Oder von der Untätigkeit
Berlin: Ullstein Buchverlage. 2022
128 Seiten
22,90 €
ISBN 978-3-550-20313-1

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