Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Carmen Roll, Christoph Kürzeder, Steffen Mensch, Marc-Aeilko Aris (Hg.) Verdammte Lust! Essays

In zwanzig Essays entfaltet der vorliegende Band ein breit angelegtes Sittengemälde des abendländischen Christentums von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert. Er kann, unabhängig vom Katalog der gleichnamigen Ausstellung, als in sich geschlossenes Werk gelesen werden.

Der durch die Sünde der Ureltern geschwächte Wille zum Guten lässt den Menschen seither im Geschirr seiner Affekte und Leidenschaften als deren Sklave einhergehen (Augustinus). Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung heilen diese schwärende Wunde im Wesen des Menschen. Die folgenden Jahrhunderte deuten die Lehre des Augustinus von der Ursprungssünde als primär moralischen Defekt. Askese im Sinne der Abtötung des Leibes und seiner sexuellen Begehrlichkeit wird zum Ersatz für das Martyrium, das den Glaubenszeugen Christus ähnlich macht. Antike stoische Unberührtheit von Leid und Leidenschaften im Verbund mit christlicher Keuschheit als Selbstkasteiung schreiben das Ideal mönchischen Lebens auch dem Leben des Diözesanklerus ein. Die seelische Unschuld der Kinder und ihre Unberührtheit von sexuellem Begehren macht sie zu Vorbildern des seit dem Vierten Laterankonzil zur Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit verpflichteten Klerus. Die Renaissance rehabilitiert die Schönheit der Körper und die Macht des liebenden Begehrens, dass Liebschaften zur Rechten und Linken auch für Kleriker salonfähig werden, bis die Gegenreformation den zölibatär lebenden Kleriker als Gegenbild zum verheirateten protestantischen Pastor erhebt. Im Zeitalter des Barock und Rokoko werden Missstände in der Lebensführung der Geistlichkeit zwar dokumentiert, aber nur halbherzig geahndet. Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wird der keusche Kleriker zum Inbegriff jenes katholischen Weltbildes, das sich gegen Modernismus, Relativismus und Gottesleugnung stemmt. Die Keuschheit des katholischen Geistlichen wird zum Inbegriff einer religiösen Gegenwelt zu einer gottvergessenen Zeit.

In diesem Kontext entfalten die einzelnen Essays lebendige Panoramen zeitgenössischer Lehre und zeitbedingten Lebens in ihrem Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit. Der Leser taucht ein in vergangene Jahrhunderte und hat den Eindruck, der Wirklichkeit seiner Zeit zu begegnen. Überaus spannend und gut lesbar wird der Interessierte auf eine Zeitreise mitgenommen, die ihm ein Gespür vermitteln mag, wie schmal der Grat zwischen glaubwürdig gelebter Berufung und nüchterner Praxis ist. Aus der Vergangenheit überfallen einen die Probleme der Gegenwart. Die Praxis vergangener Tage hat die gegenwärtige Zeit überdauert – nüchterne Erkenntnis aus der Lektüre der Essays. Der Blick ins Vergangene weckt ein Gespür in den gegenwärtigen Diskussionen, dass plakative Lösungsansätze zu kurz greifen. Sexuellem Begehren eignet eine unberechenbare Kraft, deren produktive und disruptive Kräfte sich erst enthüllen, wenn persönliche Biographien sich durchbuchstabiert haben werden in jenem Spannungsfeld, das aufgemacht wird durch das Evangelium: zu sich selbst kommen, um von sich selbst abzusehen. Unbedingt lesenswert, dieser Essayband!

Kirche. Körper. Kunst
München: Hirmer Verlag. 2023
215 Seiten m. farb. Abb.
39,90 €
ISBN 978-3-7774-3608-1

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