Carmen Roll, Christoph Kürzeder, Steffen Mensch, Marc-Aeilko Aris (Hg.): Verdammte Lust! Katalog

Vom 5. März bis 29. Mai 2023 präsentierte das Diözesanmuseum Freising unter dem Titel „Verdammte Lust!“ eine Sonderausstellung. Sie möchte – in der noch andauernden Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Kleriker und in der aktuellen Auseinandersetzung um die Normen katholischer Sexualmoral – nachzeichnen, wie die theologische Lehre in Bildprogramme umgesetzt wurde und zugleich Künstler Wege fanden, innerhalb dieses Rahmens ihrem eigenen Verständnis von Nacktheit, Körperlichkeit, Sexualität und Lustempfinden Raum zu geben.

Der Katalog zur Ausstellung versammelt mehr als 150 Exponate – Gemälde, Druckgraphiken, Devotionalien, Votivgaben, Paramente, Vasa Sacra und Archivalien – mit kurzen erläuternden Texten, um sie kunstgeschichtlich, theologisch, philosophisch und soziokulturell zu verorten, gruppiert um acht Themenbereiche. Die sich wandelnden Darstellungen der Körperlichkeit Christi, Mariens und diverser exemplarischer Heiligengestalten, mit Schwerpunkt vom 16. bis 18. Jahrhundert, veranschaulichen gesellschaftliche Veränderungen, philosophische Paradigmenwechsel und theologische Akzentsetzungen. Immer wieder stößt der Leser dabei auf die zentrale Bedeutung augustinischer Erbsündenlehre, humanistischer Philosophie, antiker Misogynie in ihrer christlichen Weiterführung als Vorbehalt gegen die Frau als Einfallstor der Sünde durch sexuelle Verführung und auf die Dominanz des männlichen Blicks. Er kann die künstlerische Bearbeitung von Bildthemen über Epochen hinweg verfolgen und wird Zeuge, wie sich Körperlichkeit und Sexualität aus ihrem religiösen Erzählrahmen emanzipieren und beginnen, zu eigenständigen Bildthemen zu avancieren.

Es verwundert hingegen, dass das 19. und 20. Jahrhundert nur durch Archivalien repräsentiert und die Gegenwart lediglich durch ein einziges Werk vertreten ist. Das könnte zu der irrigen Annahme verführen, die theologische Anthropologie und Ethik sowie die lehramtlichen Verlautbarungen hätten seit Jahrhunderten auf ihren Positionen unverändert verharrt. Die Herausgeber waren sich dieser Schwierigkeit selbst bewusst, geben sie im Vorspann zum letzten Themenbereich unumwunden zu, dass die Wahrnehmung der Vergangenheit natürlich aus dem Blickwinkel heutiger Debatten geschehe, die daraus gewonnenen Bilddeutungen perspektivisch eingefärbt und zukünftige Positionen in diesem Themenbereich schwer zu entwickeln seien.

Den Katalog zu einem Leseerlebnis macht es, dass durch die Begleittexte der Blick geschult wird, Komposition und Details von Bildwerken wahrzunehmen, die ansonsten übersehen würden und unverstanden blieben, weil es auf den ersten Blick scheinen mag, in einer endlosen Schleife verschiedener Stile werde ein und dasselbe nur ohne inhaltliche Inspiration und Innovation wiedergekäut. Gleich ob eine antike Götterskulptur dem Menschen Fruchtbarkeit verheißt und zu lustvoller Ausübung seiner Geschlechtlichkeit animiert, die ihr Pendant in christlichen Amulettketten, aus der Volksfrömmigkeit geboren, findet, oder eine christliche Bildtafel den Siegeszug der Keuschheit zelebriert mit der gefesselten Figur Amors zu ihren Füßen oder eine gedankliche Linie zu antiken Philosophen zieht, die den Affekten misstrauten und der Vernunft den Vorzug vor der Körperlichkeit gaben – eines bezeugen alle Kunstwerke: Auch die körperliche Lust bedarf der Kultivierung. Kunstwerke sind Teil dieses Kultivierungsprozesses. Gesellschaft, Kirche und Kunst beeinflussen sich und fordern einander heraus. An der Kunst wird sichtbar – anhand der im vorliegenden Katalog versammelten Werke zumindest bis ins 18. Jahrhundert –, wie lebendig diese Kommunikation ist. Wird Lust verdammt, misslingt die Kultivierung. Reinhard Kardinal Marx beschwört als Schirmherr der Ausstellung in seinem Vorwort die positiven und befreienden Perspektiven christlicher Anthropologie. Es stimmt nachdenklich, dass dazu bei der Auswahl und Deutung der Kunstwerke kein passendes Bildmaterial gefunden worden ist.

Kirche. Körper. Kunst.
Katalog
München: Hirmer Verlag. 2023
453 Seiten m. farb. Abb.
49,90 €
ISBN 978-3-7774-3604-3