Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Christian Lehnert (Hg.): Heiligenlegenden

Die „Legenda Aurea“ bezeichnet der Lyriker und Theologe Christian Lehnert zu Recht als die „wichtigste europäische Sammlung von Heiligenlegenden, die sich in Kunst und Mentalität einschrieb wie ein genetischer Code“ (139). Für das vorliegende Buch hat er eine eigenwillige Auswahl von dreiundzwanzig bekannten und weniger bekannten Heiligenviten getroffen und sie (zum Teil stark) gekürzt (7-121). Die „Anmerkungen und Erläuterungen“ (123-138) geben knappe Informationen zu Heiligen. Der in der Insel-Bücherei erschienene Band ist mit zwölf eindrücklichen Bildern von Michael Triegel angereichert (leider ohne Titel und Jahr) und wird besonders bibliophile Leserinnen und Leser ansprechen. Und die dürften, ebenso wie andere mit der Gattung Legende wenig Vertraute, über die Verachtung von Leib und Wohlstand, über den Glauben an Dämonen und Wunder sowie die fehlende Ich-Perspektive der heiligen Personen irritiert sein. Deshalb ist es sicherlich nicht verkehrt, die Lektüre mit dem Ende, dem erhellenden Nachwort des Herausgebers (139-148), zu beginnen.

Seinen Bestseller, der erst später den Titel „Legenda Aurea“ bekam, hat der Dominikaner und Erzbischof Jacobus de Voragine (um 1230-1298) sorgfältig aus den von ihm gesammelten Quellen kompiliert. Die Heiligenlegenden sind in das Kirchenjahr eingeordnet und sollen vorgelesen oder als Predigtvorlagen genutzt werden. „Legenden“ sind keine Historie, sondern Märchen, Sagen und Mythen verwandt; sie sind „bildliche Deutungen und Erkundungen der Tiefe des Wirklichen“ und zielen als Legenden über „Heilige“ auf „die vielen, die widersprüchlichen Erscheinungsweisen des Göttlichen“ (141) ab. Was aber ist eine „Heilige“ bzw. ein „Heiliger“? Auf wenigen Seiten entfaltet Lehnert in seinem Nachwort eine kleine Phänomenologie.

Festzuhalten ist, dass keineswegs alle Heiligen der „Legende Aurea“ Aufnahme in den Kanon der katholischen Kirche gefunden haben. „Heilig“ werden viele durch das erlittene Martyrium, alle durch „den Einbruch der Transzendenz“. Dadurch wird ihr bisheriges Leben auf den Kopf gestellt, weshalb der Herausgeber mit Friedrich Nietzsche von einer „Umwertung aller Werte“ (143) spricht. Die bzw. der Heilige lebt fortan in einem existentiellen Ausnahmezustand: Die Todesangst verschwindet und quantitativ Wichtiges wie etwa Geld wird bedeutungslos und an Bedürftige verschenkt. Besonders befremdlich ist der von Lehnert konstatierte Verlust der Identität: Heilige „sind niemand, haben nichts und wollen nichts“, sie führen ein „Leben an der Grenze zum Jenseits“ (145). Ein solches Leben erzwingt den Rückzug in „Wüste und Wald“ (so auch der Titel des Nachworts), wo freilich die Eitelkeit als innerer Feind lauert – und als Angriff dämonischer Wesen verbildlicht wird.

Diese Einsichten erleichtern den Zugang zu den ausgewählten Heiligenlegenden, die nicht zuletzt eine Ahnung davon vermitteln, was es heißen kann, dem ganz anderen Gott zu begegnen.

Ausgewählt, übersetzt und kommentiert mit einem Nachwort von Christian Lehnert

Mit Bildern von Michael Triegel
Insel-Bücherei Nr. 1514
Berlin: Insel Verlag. 2022
152 Seiten m. farb. Abb.
14,00 €
ISBN 978-3-19514-6

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