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Christoph Gellner: „Wo Sinn war, ist Suche“ – Spielarten des Spirituellen in der Gegenwartsliteratur
Religion ist immer Thema in der Literatur. Doch wie und warum sie zum Thema wird, welche Fragen sie aufwirft und wie sie sich das im Laufe der Zeit verändert, das ist nicht selbstverständlich. Literatur kann als Seismograf gesellschaftlicher Bewegungen gelesen werden – gerade auch für Dynamiken, die das religiöse Feld betreffen. Sie bildet nicht nur das ab, was schon durch empirische Forschung und soziologische Analysen erkannt wird, sondern bringt neue Perspektiven hervor, oft von unten nach oben und leuchtet ganz unerwartete Winkel aus. Literatur lässt uns die großen Fragen des Lebens anders und bestenfalls neu sehen.
Genau hier setzt Christoph Gellner an. Sein Buch „Wo Sinn war, ist Suche“ untersucht die jüngsten Transformationen, die sich in der Gegenwartsliteratur vollziehen, wenn es darum geht, was gern und oft, aber zu leichtfertig mit „religiös“ etikettiert wird. Dabei dokumentiert Gellner nicht einfach, welche aktuelle Literatur nach wie vor „religiöse“ Themen aufgreift, sondern kehrt die Frage um: Wenn Literatur spirituelle Motive aufgreift, inwiefern treffen dann die üblichen Kategorisierungen überhaupt noch zu? Ein zentraler Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Diagnose einer begrifflichen Verschiebung im religiösen Feld: von Religion zu Spiritualität (13).
Diese verortet Gellner theoretisch im Anschluss an Hartmut Rosas Resonanztheorie – allerdings mit einer gezielten Engführung. Er konzentriert sich auf das, was Rosa als „Tiefenresonanz“ bezeichnet. Gellner spricht in diesem Zusammenhang von Spiritualität als einer „vertikalen Tiefenresonanz“ (29, 314). Damit beschreibt er eine Form der Wahrnehmung, in der sich in der Literatur Resonanzimpulse zeigen, die über das Alltägliche hinausweisen. So gelingt es Gellner, präziser nachzuzeichnen, wo Literatur spirituelle Tiefenresonanzen entfaltet – jenseits vager Kategorien wie „religiöse Themen“ oder „religiöse Fragen“. Gellner zeigt, dass Literatur einen eigenständigen Raum der Auseinandersetzung mit spirituell insistierenden Erfahrungen und Einsichten erschließt – jenseits von festen religiösen Kategorien.
Was das Buch so empfehlenswert macht, ist nicht nur eine beachtliche Fülle der behandelten Texte, sondern vor allem ein umsichtiges und konsequentes Verweben der Stoffe zu einer sorgfältig kuratierten Schau literarischer Suchbewegungen. Gellner gliedert seine Untersuchung in zwei Hauptteile: „Empfänglichsein ist alles: Suchbewegungen, die nach dem Ganzen fragen“, in denen er eine Art Typologie der vielen literarischen Suchformen von Peter Handke bis Marion Poschmann entwirft, gefolgt vom zweiten Teil „Im Dunkel des Todes erscheint unser Leben im rechten Licht“, der sich mit Sterbe-, Todes- und Jenseitsreferenzen mit Grundfragen von Krankheit, Alter und Tod beschäftigt und literarische Tiefbohrungen u.a. bei Sibylle Lewitscharoff und Christoph Schlingensief beleuchtet.
Mit dieser Zweiteilung gelingt Gellner nicht nur eine prägnante Bestandsaufnahme spiritueller Themen in der Gegenwartsliteratur, sondern auch eine differenzierte Verknüpfung verschiedener Autoren und Perspektiven. Das macht das Buch besonders wertvoll – es bleibt nicht bei allgemeinen Feststellungen stehen, sondern bietet eine aufschlussreiche Detailanalyse mit zahlreichen gut ausgewählten Textbeispielen, wie zum Beispiel Ruth Schweikerts „Tage wie Hunde“. Hier zeigt sich exemplarisch, wie literarische Texte biblische Erzählungen nicht einfach übernehmen, sondern auf eine neue, existentielle Weise befragen (256). Schweikert bringt Scham und Schmerz angesichts der eigenen Brustkrebserkrankung ins Wort – jene Erfahrung, in der sie das Echo der Sündenfallgeschichte anklingen sieht.
Besonders wertvoll ist Gellners Buch in zweierlei Hinsicht: Zum einen eignet es sich hervorragend für das persönliche Literaturstudium. Gellners präzise Analysen und seine Auswahl an Textbeispielen machen das Lesen zu einer bereichernden Entdeckungsreise, die sowohl literarisch als auch existenziell neue Perspektiven eröffnet. Zum anderen ist das Buch auch eine ausgezeichnete Ressource für die praktische Arbeit. Durch die kluge Strukturierung nach Themen, die gezielten Verbindungen zwischen Autoren und die Vielzahl an prägnanten Textauszügen lässt es sich ideal in Gruppen einsetzen – sei es im Religionsunterricht, in der Erwachsenenbildung, in pastoralen Kontexten oder in Fortbildungen.
Wer sich umfassend mit der spirituellen Dimension der Gegenwartsliteratur befassen möchte, findet in diesem Buch eine fundierte, klug durchdachte und inspirierende Grundlage.
Freiburg: Herder Verlag. 2024
352 Seiten
36,00 €
ISBN 978-3-451-39847-6