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Cornelia Franz: Goldene Steine. Roman
Im Januar 2024, in dem Jahr, in dem das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt wird und das seit seiner Verabschiedung die Grundlage dafür bildet, dass in diesem Land nach dem Zweiten Weltkrieg und den Gräueltaten der Nationalsozialisten das Leben in Freiheit und Würde möglich ist, erscheint der Jugendroman „Goldene Steine“ von Cornelia Franz.
Der Jugendroman erzählt die Geschichte von Yara (13), Leon (14) und Nikolai (15), die sich zufällig begegnen und die infolge antisemitisch bedingter Konfrontationen mit Rechtsradikalen und deren Auswirkungen eine besondere Freundschaft zueinander entwickeln. Ein verbindendes Element zwischen den Dreien, die in völlig verschiedenen Familiensituationen leben, stellt die unterschiedlich bedingte Einsamkeit in ihren Familien dar und das Empfinden, nur unzureichend beachtet und mit ihren Bedürfnissen nicht wahrgenommen zu werden. Es fehlt allen an einer offenen und ehrlichen Gesprächskultur mit den Eltern.
Yara ist mit ihrem Vater aus einer reichen Gegend Hamburgs in ein weniger privilegiertes Viertel umgezogen; die über neunzig Jahre alte Nachbarin, Frau Winter, die ihr die Geschichte der Stolpersteine, die vor dem Haus verlegt sind, erzählt hat, kann sie nun nur noch gelegentlich besuchen. In der neuen Nachbarschaft wohnt Nikolai zusammen mit seiner russischen Großmutter und seiner Mutter. Sie sind jüdischer Herkunft, nicht sehr religiös und pflegen rudimentär jüdische Riten und Bräuche, die im Roman knapp benannt werden. Durch Zufall sieht Nikolai eines Abends Leon, der verprügelt und verletzt bei den Mülltonnen kauert. Als er zu ihm eilen will, ist dieser verschwunden; es liegt eine schmutzige Kippa auf dem Boden, die er mitnimmt. Leon hatte sie aus Übermut bei einem Sportausflug in Frankfurt einem Mann vom Kopf gestohlen und war damit abgehauen, ohne dass ihm bewusst gewesen war, was er da eigentlich geklaut hatte. Seinen Eltern erzählt er nur bruchstückhaft, was ihm widerfahren ist; seine Weigerung, zur Polizei oder ins Krankenhaus zu gehen, nehmen sie erleichtert hin und gehen ihrem jeweiligen Alltagsgeschäft nach. Ob diese Ignoranz der Eltern eines Vierzehnjährigen so recht glaubhaft ist, kann diskutiert werden. Leon, Nikolai und Yara treffen sich in der Folgezeit immer häufiger und lernen sich dabei näher kennen; es entwickelt sich eine besondere Verbindung zwischen ihnen, die jedoch, wie recht oft betont wird, keine Liebesbeziehung ist. Wiederholt wird infolge des Angriffs auf Leon Nikolais Angst aufgrund seiner jüdischen Herkunft thematisiert. Diese ist berechtigt, denn einige Zeit später wird auch Nikolai von denselben Nazis zusammengeschlagen. Wie Leon nimmt er ihren unbändigen Hass gegen Juden wahr, der sich in den Schlägen und Ausrufen wie „Scheiß-Drecksjude, verrecke!“, „Schmarotzer“ (9, 89) Bahn bricht.
Die Frage, woher dieser ungebremste, blanke Hass kommt, wird immer wieder im Laufe des Romans gestellt; sie bleibt allerdings unbeantwortet. Dabei hätte gerade zu diesem Aspekt das Nachdenken des Lesers intensiv begleitet werden können, in dem ein vertiefter Blick in die Geschichte des Antisemitismus und auf aktuelle gesellschaftliche Tendenzen gewagt worden wäre. In den bisweilen sehr übersichtlichen Kapiteln, die die drei Protagonisten im Wechsel in den Mittelpunkt stellen und in denen in einfühlsamer Erzählweise ihre Gedanken und Gefühle beschrieben werden, sind neben der wiederkehrenden Fokussierung auf die ganz konkreten Gewalterfahrungen Leons und Nikolais viele weitere Themen, die Jugendliche beschäftigen, angedeutet. Es ist die Frage zu stellen, welche Intention der Roman letztlich verfolgt. Wenn es die Absicht ist, eingebettet in eine besondere Freundschaftsgeschichte von drei sehr unterschiedlichen Jugendlichen neben einigen bekannten Fakten über die Judenverfolgung im Dritten Reich Denkanstöße über antisemitisches Verhalten und gewalttätige Übergriffe auf Juden zu geben, so ist diese erfüllt. Wenn jedoch intendiert war, mit diesem Roman Aufklärungsarbeit zu leisten und die Kompetenz zu fördern, fundiert und faktenbasiert argumentieren zu können, greift der Roman zu kurz, da es an Ausführlichkeit der Darstellungen mangelt. Nur nebenbei erwähnt wird beispielsweise die Anfrage Nicolais, warum sein verstorbener Vater trotz der Ermordung fast aller Vorfahren durch die Nationalsozialisten aus Israel ausgerechnet nach Hamburg gezogen ist. Die Geschichte des von den Nationalsozialisten deportierten Mädchens Ella und ihrer Familie, auf die Yara immer wieder zu sprechen kommt, hätte ebenfalls viele Ansätze für eine vertiefende Darstellung mit klarer Positionierung geboten. Der „Roadtrip“ nach Frankfurt, zu dem sich die Jugendlichen völlig unorganisiert und heimlich aufmachen, um Wiedergutmachung zu betreiben, die jedoch nicht möglich ist, weil sie den Besitzer der gestohlenen Kippa nicht finden, ist eine Episode, die zwar als eine mögliche Reaktion auf die Gleichgültigkeit der Eltern und als Ausbruchsversuch aus den bestehenden Verhältnissen verstanden werden kann. Ob die beschriebenen Ereignisse und Unternehmungen in Frankfurt jedoch nachvollziehbar für die Leserinnen und Leser sind, ist zu hinterfragen.
Die Aussage Leons, dass das alles für ihn Geschichte hätte bleiben können, wenn er die Kippa nicht geklaut hätte (51), zeigt sehr deutlich, wie unbequem die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte ist; die Realität fordert jedoch durch Wegschauen oder bewusst gewählte Unwissenheit ihren Tribut. Denk- und Diskussionsfähigkeit auszubilden, die Bereitschaft zu haben, aus der Geschichte zu lernen und sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten Diskriminierung und Gewalt entgegenzustellen, das sind Kompetenzen, deren Erwerb Literatur unterstützen kann. Wenn der Verlag Unterrichtsmaterial und zusätzlich einen ausführlichen Anhang mit weiterführenden Informationen sowie ein Glossar bereithalten würde, das wichtige Begriffe erklärt und in den Kontext stellt, wäre dies eine sehr gute Ergänzung für eine differenzierte, tiefgründige und nachhaltige Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart.
Hamburg: Carlsen Verlag. 2024
224 Seiten
14,00 €
ISBN 978-3-551-58517-2