Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Daniel Marguerat: Jesus von Nazaret

Braucht es ernsthaft ein neues Buch über den historischen Jesus? Sind nicht alle Steine schon so oft umgedreht worden, dass sich kaum erwarten lässt, überhaupt noch etwas Neues über Jesus aus Nazaret herauszufinden? Genau diese Frage stellt Daniel Marguerat, emeritierter Professor für Neues Testament an der Universität Lausanne, seinem 2019 erschienenen und nun ins Deutsche übersetzten Jesusbuch voran.

Marguerat nennt zwei Gründe, warum ein neues Jesusbuch sinnvoll ist: Zum einen wurde neues Quellenmaterial erschlossen, zum anderen ist es überfällig, das vorhandene Material mit einer veränderten Hermeneutik zu erschließen, sprich: den historischen Jesus durch eine andere Brille zu betrachten, um frühere Kurzsichtigkeiten zu vermeiden und durch einen differenzierteren Blick mehr Tiefenschärfe zu erhalten. Archäologische Funde aus dem Palästina des ersten Jahrhunderts, apokryphe Evangelien und das Werk des jüdischen Historikers Flavius Josephus – bislang in der Jesusforschung kaum genutzte Ressourcen – ermöglichen einen erweiterten Blick auf Jesus und seine Zeit, insbesondere wenn sie historisch-kritisch, sozialgeschichtlich und gedächtnistheoretisch ausgewertet werden. Im Nachgang des „Third Quest“ in der historischen Jesusforschung und am Übergang zum „New Quest“, der unlängst von James Crossley und Chris Keith angestoßen wurde, kommt niemand am Paradigma des erinnerten Jesus vorbei – in den frühchristlichen Texten ist nicht der historische Jesus anzutreffen, sondern lediglich der Eindruck, den er bei den Menschen hinterlassen hat. In diesen Kontext ist auch Marguerats gelehrtes und äußerst kurzweilig zu lesendes Buch einzuordnen.

In drei Teilen – Die Anfänge (Quellenlage, Hermeneutik, Kindheitsgeschichten und Beziehung zum Täufer) – Das Leben des Nazareners (Heilungen, Verkündigungstätigkeit, theologisches Profil, Junge, Gegner und Tod) – Jesus nach Jesus (Auferstehung, apokrypher Jesus, Jesusbilder des Judentums und des Islam) –wartet Marguerat mit einer Vielzahl von Beobachtungen auf, die in der Tat ein anderes Verständnis des historischen Jesus und seiner Botschaft befördern können, und zwar insbesondere dann, wenn Jesus aus Nazaret aus der Zwangsjacke späterer christologischer Dogmen befreit wird, die den Blick auf die historische Gestalt, die am Anfang des Christentums steht, trüben. Stellvertretend dafür sei hier die historisch unzutreffende Lesart der Brüder Jesu (Mk 6,3 par) im Zuge der Vorstellung der immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens genannt, die im Buch wohltuend differenziert behandelt wird. Wenn man bei diesem Punkt bleibt, bewahren alle vier Evangelien die Erinnerung an eine Unregelmäßigkeit im Leben Jesu: die Abwesenheit eines leiblichen Vaters sowie eine uneheliche Geburt, die Jesus zum mamzer (Bastard) macht und ihn damit sozial stigmatisiert (vgl. Dtn 23,3). Tatsächlich würde diese Zuschreibung vieles erklären, was sonst im jüdischen Kontext des ersten Jahrhunderts unverständlich bleibt; und so schließt Marguerat: „Trennung von der Familie, Ehelosigkeit, Mitgefühl für die Randständigen, Relativierung von Reinheitsregeln: Diese starken Akzente von Jesu Ethik tragen meiner Auffassung nach die Stigmata einer vom Verdacht der Unreinheit geprägten Kindheit und des Willens, diese soziale Exklusion zu überwinden." (54) Auch sonst räumt Marguerat mit Stereotypen auf: „Jesu Gesicht war eher dunkel, von der Sonne gegerbt, seine Züge semitisch, Augenbrauen und Nase prononciert. Er war einen Meter fünfundsechzig bis siebzig groß und achtundfünfzig bis 70 Kilo schwer. Diese mit Vorsicht zu genießenden Schätzungen dienen lediglich dazu, etwas Distanz zu den traditionellen Bildern zu schaffen" (91), und zitiert dazu auch mit Augenzwinkern die Erkenntnisse von John P. Meier: „Der von Jesus ausgeübte Beruf erforderte technische Kompetenz und Muskelkraft. ,Das schmächtige Kerlchen, wie es uns in Heiligenbildchen und Hollywoodfilmen präsentiert wird, hätte die Härte kaum überlebt, mit der der tekton von Nazaret von Jugend an bis kurz nach dreissig konfrontiert war.‘“ (67)

Die mal mehr mal weniger vorsichtige Erschütterung christlicher Sehgewohnheiten im Hinblick auf Jesus von Nazaret zieht sich durch das ganze Buch und macht es zu einer ebenso herausfordernden wie lohnenden Lektüre, von der sich viel lernen lässt. Für angehende Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in Pastoral, Katechese und Schule sollte es zur Pflichtlektüre werden und auch Oberstufenkurse können massiv von diesem Buch profitieren. Hier kann der nüchterne Blick auf den historischen Jesus in der Tat manche christologische Engführung aufbrechen und hilft mit der Vorstellung eines „österlichen Koeffizienten" für die Evangelien ebenso wie mit der endgültigen Verabschiedung von Mythen wie dem „Ostergraben" den Leserinnen und Lesern dabei, Jesus neu zu sehen und neu zu verstehen. Daneben wird – gerade im dritten Teil – viel neues oder weitgehend unbekanntes Material erschlossen.

Allen, die es eilig haben, sei das Nachwort (313-316) empfohlen: Kompakter als auf diesen knapp vier Seiten ist eine Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse des Buchs – und des aktuellen Stands der historischen Jesusforschung – nicht zu bekommen. Fazit: ein großartiges und absolut empfehlenswertes Buch.

Heimatloser, Heiler, Poet des Gottesreiches
Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh
Zürich: Theologischer Verlag. 2022
330 Seiten
26,90 €
ISBN 978-3-290-18370-7

Zurück