Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

David Gelernter: Gezeiten des Geistes

Ob militärisch, ökonomisch oder allgemein kulturell: Die Dif­fe­renzen zwischen Westeuropa und den USA sind nach wie vor be­trächtlich. Dafür ist dieses Buch ein sehr deutlicher Beleg, denn der US-amerikanische Informatiker David Ge­lernter schreibt in einer Weise über das Bewusstsein, wie es in Europa kaum möglich wäre.

In den USA wird die Leib-Seele-Debatte und die Frage nach dem Bewusstsein eindeutig von materialistisch eingestellten Wis­senschaftlern und Philosophen dominiert. Ihre „Anthropologie“ – wenn wir es so nennen dürfen – orientiert sich am Computer­pa­radigma. Danach wird der Mensch von einem sensoriellen Input bestimmt, der dann im Gehirn gewisse Reprä­sentationen hervor­ruft, die sodann computational ver­arbeitet werden und zu einem motorischen Output führen, der schliess­lich mit „Han­deln“ oder mit Praxis gleichgesetzt wird. Das heisst: Zwi­schen Mensch und Roboter gibt es eigentlich keinen Un­ter­schied – und Bewusstsein ist dann eine Begleiterscheinung des computationalen Gesche­hens im Sinn einer „Metarepräsen­ta­tion“ oder Ähnlichem. Ist dies der Hintergrund, dann erscheint das Buch von Gelern­ter als ein willkommener, sehr erwünschter Querschläger. Denn obwohl Ge­lernter Informatiker ist, reitet er eine Ge­neralat­tacke auf die­se verbreitete Computerideo­lo­gie.

Seine Grundthese, die er wohl von John Searle übernommen hat, lautet: Das menschliche Bewusstsein ist computational nicht wirklich verständlich zu machen. Vielmehr müssen wir das Be­wusstsein in seinem Verhältnis zum Unbewussten thematisie­ren, wobei sich Gelernter im Wesentlichen an Sigmund Freud orien­tiert, nun aber so, dass zwischen dem Bewussten und dem Unbe­wussten viele Zwischenstufen eingeschoben werden wie Träume, Wachträume, Phantasien, Intuitionen oder die Über­gangs­phasen zwischen Wachzu­stand und Schlaf. Das Ganze kommt bewusst anti­szientifisch daher, denn Gelernter schöpft reichlich aus der Kunst, aus Roma­nen, Theaterstücken und Gedichten aller Epo­chen. Warum auch nicht, sind doch die Künstler die Virtuosen des Halb- oder des Unbewussten.

Der Verfasser denkt hierarchisch: Die Spitze seiner Hierarchie ist der Verstand, der computational arbeitet, was schon für die Empfin­dung, die auf derselben Hierarchiestufe steht, nicht gilt und noch viel weni­ger für den kontinuierlichen Übergang ins Unbewusste. Der führt zunächst vom Wahrnehmungsbewusstsein zur Introspektion als einer niederen Stufe. Dort erzählen wir Ge­schichten, weil die Logik nicht mehr ausreicht; dafür sind diese Geschich­ten zugleich moralrele­vant und leiten also unser Handeln. Dies ist auch die Sphäre der Bilder im Gegensatz zu den höherstehenden Begrif­fen. Am unteren Ende der Hierar­chie sind wir nur noch. Dies ist also die Sphäre der Religion: rei­nes Sein. Beim Hinabsteigen in die Sphäre des Seins verlie­ren wir nach und nach jede Kontrolle. Nur der Intellekt ganz oben kontrolliert wirklich. Er lebt in der Gegenwart, während die Introspektion die Sphäre der Erinnerung ist.

 

Wir möchten es bei dieser groben Skizze belassen, denn die Prob­lematik des Unternehmens wird jetzt schon deutlich: Wäh­rend wir ein solches Buch auf dem Hintergrund der US-ameri­ka­nischen Situation sehr wohl verstehen, muss sie uns als Alt­europäer befremden. Zwar dominiert auch bei uns ein kruder Ma­teria­lismus die Leib-Seele-Debatte, dazu gibt es aber sehr deut­li­che Gegeninstanzen. So endet z.B. die Bewusstseinsphilo­so­phie nicht bei Hegel, sondern sie wird – metaphysisch tiefer gehängt – von Autoren wie Dieter Henrich oder Manfred Frank fortgeführt. Vor allem aber ist die Phänomenologie von Husserl über Merleau-Ponty bis Waldenfels eine mächtige Alternative zu jedem Naturalismus.

 

Auf der Seite 38 erwähnt Gelernter zwar Husserl und Merleau-Ponty, aber im Lite­ra­tur­verzeichnis kommen sie nicht vor. Es ist offenkundig, dass er sie nicht gelesen hat, sonst wäre die­ses Buch nicht geschrieben worden, denn alle Themen, die Gelernter abhandelt, als wäre er der erste, werden von Mer­leau-Ponty systematisch kohärenter beschrieben, insbeson­de­re was die Rolle der Kunst anbelangt. Weil Gelernter nicht Mass nimmt an solchen bedeutenden Philosophen, verirrt er sich ein ums andere Mal.

Warum stellt das abstrakt-logische Denken die Spitze der Hier­archie dar und nicht etwa die Vernunft als fundamentale Be­gründungsinstanz? Warum nicht die praktische Vernunft wie bei Kant oder den Pragmatisten und warum, wenn er schon ein hie­rar­chisches Verhältnis zwischen Denken und Handeln einführt, betont er dann auf Seite 54, dass es zwischen beiden keine Vorzugsordnung ge­be? Weiter: Warum soll­te Erinnerung das hauptsächliche Charakteristi­kum der Intro­spektion sein, wo sie sich doch zumeist auf Er­lebnisqualitäten bezieht, die im Jetzt stattfinden? Und warum ist bei ihm Kon­trolle als ein techni­sches Verhalten das höchste Gut? Und weshalb wird das Sein als die un­terste Stufe der Pyramide plötzlich mit dem Überbe­wusst­sein identifi­ziert (68 f), von dem ein „unermess­licher Glanz“ (73) ausstrahlt als ein Ursprung aller Spiritua­lität?

Dieses Buch ist eine Art von handgestricktem Pullover, den man dort kaufen wird, wo nichts anderes zu haben ist. In den USA, wo es zunächst erschien, mag eine solche Provokation ihren gu­ten Sinn haben. Aber bei uns?


Berlin: Ullstein Verlag. 2016
392 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-550-08049-4

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