Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Dieter Henrich: Furcht ist nicht in der Liebe

Eine verborgene religiöse Musikalität kennzeichnet das reichhaltige Schrifttum des deutschen Philosophen Dieter Henrich (1927-2022). Besonders seine Werke über den Deutschen Idealismus fanden große Beachtung und über die Philosophie hinaus Resonanz. Henrichs Denken lässt sich lesend als geistig weiträumig erfahren, in dem – wie nun in der letzten von ihm publizierten Schrift – ein Ausblick über die Endlichkeit hinaus möglich erscheint.

Behutsam und sensibel nähert sich der Philosoph dem titelgebenden Satz aus dem ersten Johannes-Brief an, den er existenziell als berührend und ergreifend wahrnimmt. Menschen, die in Not seien, vielleicht geistlich obdachlos und zugleich sehnsüchtig nach Gott sind, lassen sich von der „überwältigenden Einsichtigkeit“ ansprechen. Oder sollte eine philosophisch grundierte Skepsis hier zu vernünftigem Innehalten raten? Henrich sucht nach dem „Echo“ der johanneisch-christlichen Liebeslehre in der „alltäglichen Lebenserfahrung des Menschen“.

Wer liebt, weiß um die Verletzlichkeit des geliebten Menschen. Es bestehe stets die „Furcht um den Anderen“. Liebe lässt zuinnerst teilhaben am Los des Anderen. Die Furcht, was dem Geliebten widerfahren könnte, scheint untrennbar zur Liebe hinzuzugehören. Henrichs provokative These gegen die johanneische Botschaft lautet: „Je vollkommener die Liebe ist, umso größer auch die Furcht um sie.“ Doch der Philosoph begibt sich denkend auf die Lichtspur des Glaubens, die im Brief des Evangelisten sichtbar wird, und entwickelt Überlegungen, in denen die säkulare Form der Liebespartnerschaft mit der johanneischen Lehre verknüpft wird.

Die „Eigenständigkeit der Lebensführung“ benennt Henrich als wesentlich. Lieben heißt also mitnichten in Besitz nehmen, sondern ist eine Seinsweise, die „im Unbedingten fundiert ist“: „Partnerschaften sind Vereinigungen der Energien Selbständiger in einer vielfältig gefährdeten Welt bewussten Lebens.“ Die „reife Liebe“ schließe die „Pflicht zu fürsorglichem Umgang mit dem geliebten Menschen ein“. Der Gedanke an die Furchtlosigkeit erschließt sich in der Gemeinschaft des christlichen Glaubens, durch das Glaubens- und Liebeszeugnis der Mitmenschen, durch das Evangelium, so durch die „Beheimatung in einer Kirche“, nicht weniger auch durch die „Abschwächung der Lehre innerhalb der modernen Bildungswelt“. Henrich meint hier die Furcht vor dem Gericht Gottes, die den christlichen Glauben lange Zeit okkupiert hat. Mit Johannes lasse sich zeigen, dass die „wahrhafte Gotteserfahrung“ allein in der Liebe bestehe. Der Evangelist macht die „Wesensliebe Gottes“ bewusst, die zugleich Geschenk und Geheimnis ist, deren Horizont viel weiter reicht, als möglicherweise die Frömmsten unter den Christenmenschen erahnen können.

Dieter Henrich erkennt theologische Gedanken und Lehrsätze sowie deren „maßgebende Rolle“ an. Doch er wirbt dafür, nicht nur das Christentum, sondern Religionen überhaupt „in ihrem Kern verstehend“ nachzuvollziehen: „Die Wirklichkeit der Ausübung einer Religion ist stets komplexer als ihre einsichtige Auslegung.“ Solche Deutungsversuche, ob philosophischer oder theologischer Art, haben notwendig Grenzen. Der Philosoph Henrich zeigt, dass der erste Johannesbrief gewissermaßen auf die Herzmitte des christlichen Glaubens hinweist, der im Leben eines Menschen auch heute Gestalt gewinnen und gegenwärtig sichtbar werden kann.

Philosophische Betrachtungen zu einem Satz des Evangelisten Johannes
Frankfurt: Vittorio Klostermann Verlag. 2022
70 Seiten
16,80 €
ISBN 978-3-465-03418-6

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