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Dietmar Mieth: Ketzerflammen in Paris. Marguerite Porete, Meister Eckhard und die Intrigen der Inquisition. Roman
Meister Eckhart ist in aller Munde, die Begine Marguerite Porete und ihr damaliger Bestseller „Der Spiegel der einfachen Seelen“ stehen dagegen immer noch im Schatten; die historischen und spirituellen Kontexte beider sind nur Fachleuten bekannt. Diesem Notstand hilft dieses originelle Buch ab, informativ und unterhaltsam, nicht ganz leicht zu lesen, weil mit viel Basisinformationen gefüllt, aber im Verlauf immer spannender und sehr ergiebig. Wer Meister Eckharts Denken historisch genauer verstehen will, erfährt viel Neues; und die ekstatische Geist- und Freiheitsmystik der Begine ist allererst noch zu entdecken.
Etienne, der Sohn des Bürgermeisters und Polizeichefs von Paris, als Leutnant in Armee und bei Hofe bestens vernetzt, ist inzwischen als Zisterziensermönch in Südfrankreich Bruder Paul geworden. Alles, was er in diesen spannenden Umbruchzeiten nach 1300 in Paris miterlebt und -gestaltet hat, lässt er nun in klösterlicher Stille nachdenklich Revue passieren. In seiner erinnernden Vorstellung entsteht für ihn (und die Leserschaft) ein Forum, ja ein Tribunal, in dem und vor dem alle damaligen Akteure auftreten und ihre Geschichte erzählen. Paul, dieser Mönch, kommentiert und erläutert. Dabei kommen ihm natürlich seine beiden Lebenshälften zugute, die weltliche in Paris und dann die geistliche im südlichen Senanque. Die freilich hat auch in Paris angefangen, mit den Studienjahren in St. Jaques bei den Dominikanern, also auch bei Meister Eckhart.
So ungefähr geht die fiktive Rahmenerzählung, dank derer Mieth und sein Alter Ego ein farben- und faktenreiches Panorama jener Umbruchzeit entstehen lassen. Damals wurden ja gerade in Paris, dem geistigen Zentrums Europas, die politischen und religiösen Karten neu gemischt. Frankreich forciert die Entwicklung zum Nationalstaat, das Papsttum muss sich nach seinen gescheiterten Höchstansprüchen im Exil in Avignon neu formieren; mit Universitäten, Bettelorden und Beginen sind im Grunde schon vorreformatorische Umbrüche im Gange, bei allem ist die Inquisition nicht vergessen.
Entsprechend stehen im Mittelpunkt des Buches die Vernichtung der Templer, der Prozess um Meister Eckhart und vor allen das tödliche Inquisitionsverfahren gegen die erstaunliche Clergesse Marguerite Porete. Indem Mieth zusammen mit Etienne/Paul andere Personen persönlich auftreten lässt – vom Großinquisitor bis hin zum einfachen Wachsoldaten –, entstehen unterschiedliche Zugänge zu denselben Ereignissen. Was wissenschaftlich erhärtet ist, wird fiktiv erweitert und ebenso assoziationsreich wie kombinatorisch in Erzählfluss gebracht. Aus Poretes mystagogischem Bestseller wird des Öfteren im Wortlaut zitiert. Deutlich wird bei allen biografischen, stilistischen und inhaltlichen Unterschieden die erstaunliche Nähe von Margaretes und Eckharts Denken: sie stärker im Stil prophetischer Liebes- und Geistmystik, er stärker intellektual auf das Wunder der fortwährenden Schöpfung und Inkarnation bezogen, sie freie Bänkelsängerin der unendlichen Gottesliebe und Selbstvernichtigung, er der abgründige Professor und Prediger – beide leidenschaftlich an der Gottinnigkeit des Menschen und seiner Wahrheit interessiert, auch an der Übersetzung dieses Glaubens in Leben und Alltagssprache. Indem Mieth die beiden sich schon früh begegnen lässt und unmittelbar ins Zwiegespräch bringt, entstehen bisweilen meisterliche Dialoge und brillante Verdichtungen. Dass das Treiben der Inquisition zwischen Papst und König differenziert geschildert wird, räumt mit manchen Klischees auf. Was der Großinquisitor über sich und seine Motive äußert, bringt treffend Zufälle und Abgründe der Realgeschichte auf den Punkt. Man schaut mitlesend in die Brunnenstube moderner Freiheits- und Gewaltgeschichten.
Kurzum: Schon die Idee, das wissenschaftliche zugängliche Fachwissen allgemeinverständlich in Rollenprosa zu erzählen und entsprechend erfinderisch zu einem Gesamtbild auszumalen, ist hervorragend. Und ihre Realisierung hält, was sie verspricht: hinsichtlich Informationsreichtum und Veranschaulichungskraft unbedingt; hinsichtlich literarischer Form, kompositorischer Stringenz und narrativem Fluss unterschiedlich gut (von den leider zahlreichen Druckfehlern zu schweigen). Der schnelle Rollenwechsel und die Vielzahl aneinandergereihter Daten wie Fakten erschweren zwar bisweilen die Lektüre, beschenken aber durch Differenzierung. Der Verfasser ist ja nicht irgendwer: Der Tübinger und Erfurter Professor ist nicht nur ein renommierter Moraltheologe; seit seiner grundlegenden Dissertation über Meister Eckhart vor 50 Jahren gehört er zu den führenden Erforschern und Übersetzern des originellen Denkers aus Thüringen. Dass er zudem seit seiner Habilitation zu Thomas Manns Josephsroman ein schöpferischer Grenzgänger zwischen Religion, Theologie und Literatur(wissenschaft) ist, kommt diesem Historienroman inhaltlich und gestalterisch nur zugute. Wer sich fachwissenschaftlich vertiefen will, lese dazu Mieths ausgezeichnete Eckhart-Einführung (München 2014) und seine bewährte Eckhart-Textauswahl mit oft eigenen Übersetzungen.
Hannover: der blaue reiter I Verlag für Philosophie. 2024
281 Seiten
24,90 €
ISBN 978-3-933722-88-1