Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Edward O. Wilson: Die Hälfte der Erde

Ein Planet kämpft um sein Leben

Mit seiner Forderung, „die Fläche der unantastbaren Naturreservate auf mindestens die halbe Erdoberfläche auszuweiten“, reiht sich der amerikanische Biologe Edward O. Wilson in den vielstimmigen Chor ökologischer Mahnrufer ein. Die Stimme Wilsons sticht jedoch aus dem oftmals diffusen Getöse heraus. Der emeritierte Harvard-Professor und zweifache Pulitzerpreisträger vermag seit den 70er Jahren ein breites Lesepublikum für sein zunächst abwegig anmutendes Forschungsgebiet der Insektenkunde zu fesseln. Kundig und leidenschaftlich offeriert er die Erkenntnisse seiner Feldforschung in populären Sachbüchern. Daneben lösen seine wissenschaftlichen Ansichten zu Sozialbiologie und Evolutionstheorie anhaltende Forschungskontroversen aus, die bis heute anhalten.

Mit „Die Hälfte der Erde“ beschließt nun der 87-Jährige seine Alters-Trilogie. Mit dieser versucht er nachzuzeichnen, wie der Mensch zum Architekten und Beherrscher des Anthropozäns wurde. Das Anthropozän wird dabei in Wilsons Darstellung zum mehrdeutigen Schlüsselbegriff. Einerseits firmiert es als Überschrift für das gegenwärtige Zeitalter, in dem das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt erstmals derart gestaltet ist, dass es seine Selbstverständlichkeit verloren hat, die Natur in ihrem Eigenstand zu betrachten. Der anthropogene Klimawandel kann als Beispiel für die vorherrschende wissenschaftliche Auffassung dienen, dass der Mensch mit seinem Handeln maßgeblich Einfluss auf seine natürliche Mitwelt nimmt. Zugleich geißelt Wilson mit dem Begriff des Anthropozäns eine Geisteshaltung, welche die Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen so auszuschöpfen sucht, dass die Umwelt zur bloßen Dispositionsmasse des fortschreitenden Menschen wird.

Die unklare Begriffsverwendung trägt dazu bei, dass seitens Wilsons mit den Anthropozän-Vertretern ein veritables Feindbild geschaffen wird, in das viele Diskursteilnehmer eingeordnet werden. Wilsons berechtigte Kritik an technologischen Großprojekten im Umgang mit dem Klimawandel und an anthropozentrischen Umweltschutzbemühungen verlieren in dieser Konstellation an Zielgerichtetheit. 

Sein hehres Ziel, die Hälfte der Erde im Eigenstand der Natur zu belassen, evoziert daneben weitere Stärken und Schwächen seiner Darstellung. Freimütig räumt er ein, dass die titelgebende Forderung eine Notlösung sei, die mehr eine appellative denn eine argumentative Überzeugungskraft zu entfalten versuche. Das gibt dem Autor wiederum die Möglichkeit, sich weniger den Lösungsmöglichkeiten zur Erreichung seines Ziels zu widmen als darzulegen, worum es sich zu kämpfen lohnt. Und hier liegt die wirkliche Stärke des Buches: Wilson will Leserin und Leser für die Biodiversität der Natur faszinieren und anhand zahlreicher illustrer Einblicke auf geringgeschätzte Arten und selten wahrgenommene Wechselspiele in Ökosystemen aufmerksam machen. Leidenschaftlich vorgetragen eröffnet er so ein Panoptikum an prächtigen Naturschauspielen. Das Ziel, Natur in ihrem Eigenstand zum Menschen und in ihrem Artenreichtum zu erhalten, entfaltet in dieser pathetischen Schau eine mitreißende Kraft. 

Die Mittel der Zielerreichung geraten darüber in den Hintergrund. Das zu bedauern, fällt angesichts der von Wilson offerierten Lösungsperspektiven schwer. So vehement er in seiner Darstellung gegen Konsumismus und verharrenden Fortschrittsoptimismus wettert, verbleiben Wilsons Lösungsperspektiven im Bereich szientistischer Phantasterei. Synthetische Biologie und digitale Expansion geraten zu den verheißungsvollen Schlaglichtern, die eine kulturelle (R)evolution in Aussicht stellen, nach welcher der Bedarf an natürlichen Ressourcen eingehegt werden kann, so dass ein Leben im nachhaltigen Paradies möglich wird. Ethische Vorbehalte gegenüber gentechnischen Eingriffen werden als überkommener religiöser Dogmatismus ebenso an den Rand gedrängt wie notwendig anzustellende Überlegungen über die Auswirkungen synthetischer Biologie auf Biodiversität und Ökosysteme. 

So bleibt am Ende der Lektüre die – jedoch nicht gering zu schätzende – Erkenntnis, dass es die Natur in ihrem Eigenstand gegenüber dem Menschen zu wahren gilt und ein faszinierender Blick in die vielfach unergründeten Naturvorgänge auch in ihrem Wechselspiel zum Menschen als wirksames Mittel gegen ökologischen Raubbau und Gleichgültigkeit gegenüber der Natur dient.

München: C.H. Beck Verlag. 2016 
256 Seiten m. s-w Abb. 
22,95€
ISBN 978-3-406-69785-2

 

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