Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Elisa Klapheck: Zur politischen Theologie des Judentums

Elisa Klapheck lehrt an der Universität Paderborn; sie gibt die Buchreihe „Machloket“ heraus, in der Streitschriften zu gesellschaftspolitischen Fragen erscheinen, und sie ist Rabbinerin in Frankfurt und gehört dort dem „egalitären Minjan“ an. „Minjan“ ist die Zehnzahl, die im Judentum erforderlich ist, um eine Gemeinde zu bilden, „egalitär“ bezieht sich darauf, dass in liberalen Gemeinden nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen gezählt werden. Weiter möchte ich auf Klaphecks Position in innerjüdischen Debatten nicht eingehen und auch nicht die sieben Aufsätze der Reihe nach wiedergeben, sondern mich auf Kerngedanken konzentrieren, die im Buch wiederholt auftauchen und die mir besonders aufschlussreich erscheinen.

Rehabilitation Kains: „Da wandte sich der Ewige zu Abel und seinem Geschenke. Aber zu Kain und seinem Geschenke wandte er sich nicht, und es verdross Kain sehr, und es sank sein Antlitz.“ (Genesis 4,4f) Um die offenbare Ungleichbehandlung der beiden Brüder zu rechtfertigen, erklärten Kommentatoren die Gabe Kains für minderwertig – ohne Beleg in der Bibel. Vielmehr verteilt Gott seine Gunst willkürlich, er herrscht wie ein Despot. Doch er lernt dazu, denn er tötet Kain nicht, sondern schützt ihn vor der Rache der Menschen. Kains Familie gründet die erste Stadt (Genesis 4,17), sie erfindet die Musik (V.21), die Metallbearbeitung (V.22). Da geht es um die Fähigkeit des Menschen, neue Welten zu schaffen – ein Leitgedanke des Buches. Darum geht es auch bei der Geschichte von der Weltstadt schlechthin in der jüdischen Erinnerung, dem „Traum-Babylon“: Klapheck findet es nachvollziehbar, dass sich die Menschen eine Stadt bauen, und sie beobachtet Gott, der herabsteigt, um sich die von Menschen geschaffenen Welten anzusehen, und sie interpretiert es keineswegs als Strafe, wenn Gott die Sprachen verwirrt, sondern als Befreiung vom Zentralismus einer einzigen herrschenden Kultur.

Gott lernt dazu: „Die Tora ist kein Buch, das von den Leserinnen und Lesern verlangt, jede Handlung Gottes gut zu finden.“ Als Abraham so erfolgreich mit Gott verhandelt hatte, dass er sich sicher glaubte, Sodom, die Stadt seines Neffen Lot, gerettet zu haben (Genesis 18, 22-33), muss er am frühen Morgen doch sehen, dass Gott Sodom und Gomorra und den ganzen Umkreis vernichtet hat (19,27-29), und für den Menschen, der Gott vertraut, ist es kein Trost, dass sein Angehöriger das nackte Leben rettet. Abraham kommentiert das Geschehen nicht, Klapheck spricht von einer „sprachlosen Anklage“, von Verzweiflung, Empörung und Widerstand gegen Gott. Doch die Geschichte geht weiter: Abraham und Abimelech schließen einen Bund; es ist der erste „Brit“ in der Bibel (Genesis 21,27), und es ist eine rein menschliche Initiative; Abraham nennt den Ort „Ber Schewa“, Brunnen des Schwurs, und er pflanzt eine Tamariske anstelle des Lebensbaumes, der verloren ist, in einem messianischen Ausblick auf eine gerechtere Welt der Aushandlung und nicht der Gewalt. Wenn Gott nicht bedeutungslos werden will, muss er Himmel und Erde immer wieder neu „erwerben“, seine despotischen Züge ablegen, sich zurechtfinden in den vom Menschen geschaffenen neuen Welten.

Elisa Klapheck meditiert eine kleine Wendung der „Keduscha“, die in der Schabbat-Liturgie gebetet wird: „Wir heiligen dich“, und sie findet weitere Belege, dass Gottes Heiligkeit nicht einfach fraglos feststeht, sondern eine menschliche Beteiligung braucht: „Um Gottes Heiligkeit in der Welt zu konkretisieren, bedarf es einer Heiligung durch den Menschen.“ Ein Anwendungsfall ist die Tora selbst, die Klapheck als ringförmige Anlage um das mittlere Buch „Wajikra“ (und er rief) deutet, das wir „Levitikus“ nennen, und das aus zwei Blöcken besteht, dem „Priesterkodex“ (Levitikus 1-18) mit kultischen Vorschriften und der Beschreibung eines besonderen Standes der Priesterschaft und dem „Heiligkeitskodex“ (Levitikus 19-27), der für das ganze Volk gilt. Vor dem Priestergesetz kommt das Buch Exodus, in dem Freiheit und Sklaverei, Gott oder die Götzen den einen Konflikt bilden, dessen Lösung Aufbruchsstimmung und Begeisterung hervorrufen. Unterbelichtet findet die Autorin das Buch Bamidbar (In der Wüste), das wir „Numeri“ nennen. Dort werden die Konflikte einer freien Gesellschaft beschrieben, etwa wenn die Rotte Korach „populistisch“ die Gleichheit mit den Mitteln der Gleichheit abschaffen will. Da zeigt sich: Bundeswirklichkeit ist Krisenwirklichkeit. Das betrifft auch Gott, der das Volk in der Wüste (bamidbar) führt und an diesem Ort, der niemandem gehört, mit ihm redet (medaber), diskutiert, verhandelt. Davon kann man für die Bundeswirklichkeit der Europäischen Union mehr lernen als von ungeprüftem Freiheitspathos wie im Buch Schemot (Namen), das wir „Exodus“ (Auszug) nennen.

Exil als Chance: Nach der verheerenden Niederlage 586 v.C., der Zerstörung des Tempels und der Deportation der jüdischen Elite schreibt der Prophet Jeremia im Namen Gottes an die nach Babylon verschleppten Juden: „Sucht das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zu dem Ewigen, denn in ihrem Wohle wird euch wohl sein.“ (Jeremia 29,7) Damit ist eine Grundeinstellung umschrieben, die es dem jüdischen Volk erlaubte, die zahlreichen Vertreibungen und das Leben in der Zerstreuung über so lange Zeit zu überstehen. In den Marktwirtschaften des vorderen Orients, in Babylon und Palmyra z.B., entsteht der Talmud. Die Rolle, die das Land in der Bibel spielt, übernimmt im Talmud der Markt. Religiös-säkulare Konzepte des Talmuds sind daher wegweisend für eine pluralistische Gesellschaft. Zum Beispiel die sieben noachidischen Gebote, die allen Menschen auferlegen, ein Rechtswesen zu bilden und miteinander und mit Gott gewaltfrei umzugehen. Oder das Prinzip „Dina de Malchuta dina“ (Das Gesetz des Staates ist das Gesetz), das es den Juden gebot, die Eigentums- und Steuergesetze des Staates zu akzeptieren, was ihnen wiederum zu einer relativen Autonomie verhalf.

Klapheck findet in den säkular-religiösen Prinzipien des Judentums theologische Gründe für die Tatsache, dass Juden an der Modernisierung Europas, namentlich Deutschlands, maßgeblichen Anteil hatten. Sie konkretisiert das am Beispiel des Textilgewerbes und der Erfindung des Kaufhauses. Jüdisches Mäzenatentum fördert durch Stiftung von Bibliotheken und anderen Bildungseinrichtungen gezielt die Teilhabe breiterer Bevölkerungsschichten. Es ist daher kein Zufall, dass die Formulierung „Eigentum verpflichtet“ auf Initiative des Juden und SPD-Politikers Hugo Sinzheimer (1875-1945) in die Weimarer Verfassung hineingeschrieben wurde. Schließlich könnten die Siegel auf koscheren Lebensmitteln ein Vorbild sein für „Öko-Kaschrut“ und für die Idee, dass eine Globalisierung unter Einhaltung ethischer Standards möglich ist.

Mein Fazit: Elisa Klapheck hat ein überaus anregendes Buch geschrieben, das einen christlichen Leser an vielen Stellen, von denen hier nur wenige beschrieben werden konnten, zum Nachdenken bewegt. Was meinen wir mit der Gebetsbitte „Geheiligt werde dein Name“? Wie steht es um das Verhältnis der christlichen Kirchen zu autokratischen Herrschaftssystemen? Herrscht „unser“ Gott autokratisch, ist die Vorstellung von einem hierarchisch durchorganisierten Himmel despotisch? Sind die „noachidischen Gebote“ nicht eine gute Idee, um in einer pluralistischen Gesellschaft interreligiös ins Gespräch zu kommen? Und wenn es zu den Pointen der Bibel gehört, dass Allmacht und Zerstörungsbereitschaft selbst für einen Gott keine erfolgversprechenden Strategien sind, gibt das nicht Hoffnung? Ein störender Fehler ist mir im ansonsten sehr hilfreichen „Verzeichnis der Quellen und hebräischen Begriffe“ aufgefallen: „Bamidbar“ heißt das vierte und nicht das dritte Buch Mose im Judentum. Das ändert aber nichts an meiner Dankbarkeit gerade auch als Religionspädagoge; denn die im Buch verhandelten Themen sind für einen Religionsunterricht, der Element einer konsistenten schulischen Erziehung sein will, elementar.

Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. 2022
242 Seiten
24,00 €
ISBN: ISBN 978-3-86393-145-2

Zurück