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Engelbert Recktenwald: Wirklichkeitserschließendes Sollen
„Philosophieren aus Not“ habe ihn, so bekennt der Philosoph und Theologe Engelbert Recktenwald, zu dem zentralen Gedanken dieses Buches geführt. Krisenhaft hat der Kant-Kenner die Bekanntschaft mit der Transzendentalphilosophie erlebt, wie schon Hölderlin und Kleist, für die Kants Erkenntniskritik die vertraute Welt in einen unwirklichen subjektivistischen Schein zu verwandeln schien. Doch zugleich habe Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ zusammen mit der existenziellen Erfahrung des Gewissens bei ihm die Erkenntnis reifen lassen, dass im Sittengesetz und dem damit verbundenen „du sollst“ eine untrügliche Gewissheit zu finden ist. Sie ist unmittelbar und intuitiv, erfordert aber die freie Zustimmung der Person, die ihr Handeln danach ausrichten muss. Im Werk Anselms von Canterbury, dem Recktenwald eine umfassende Studie gewidmet hat, fand er die „wirklichkeitserschließende Kraft der Sollenserfahrung“ bestätigt und damit sogar den entscheidenden Schlüssel für die Beweiskraft des Anselm‘schen Gottesbeweises. Diese einem zeitgeistigen ethischen Relativismus und Subjektivismus entgegenstehende Annahme einer untrüglichen moralischen Intuition begründet und verteidigt der Autor mit den Essays dieses Bandes.
So widerspricht er einer konsequentialistischen Ethik, die moralische Intuition nach einem Zwei-Ebenen-Modell nur bei banalen Alltagsproblemen für brauchbar hält, eine reflektierte moralische Entscheidung dagegen nach dem Maßstab des Interesses von Personen treffen will. Letztlich entziehe das dem berechtigten Widerstand gegen die fehlgehenden Interessen einer Mehrheit das moralische Recht und es sei dann „die lebensgefährliche Zivilcourage nicht moralisch, sondern töricht“. Hier schon nimmt Recktenwald die wichtige von Thomas Nagel getroffene Unterscheidung in eine Innen- und eine Außenperspektive auf. So wenig, wie die im Bewusstsein sich bildende Einsicht in die Geltung mathematischer oder logischer Sätze von außen psychologisch bestätigt oder erklärt werden kann, so wenig lässt sich die moralische Intuition als Innenperspektive von außen mit dem Hinweis auf Interessen oder Wünsche außer Kraft setzen.
Nagels grundlegender Aufweis, dass die Innenperspektive des Bewusstseins nicht naturalistisch auf neuronale Vorgänge im Gehirn reduziert werden kann, ist dann Gegenstand von gleich zwei längeren Kapiteln. Sie knüpfen einerseits daran an, führen aber andererseits in kritischer Würdigung des Nagel’schen Perspektivendualismus weiter zu einer theistischen Deutung des Bewusstseins, der Vernunft und der intelligiblen, also verstehbar geordneten Welt. Sie können nur in einer absoluten Vernunft, in Gott, ihren Ursprung haben, denn irgendwie mit Mentalem begabte Grundbausteine des Universums, wie Nagel sie panpsychistisch annimmt, wären stets auch kontingent, würden also auf einen anderen absoluten Ursprung verweisen, der es nicht ist.
Ähnlich wie Nagel, der zwar die Innenperspektive und die damit gegebenen rationalen und moralischen Schlüsse retten, aber Atheist bleiben will, gerät auch Jürgen Habermas‘ Versuch einer Diskursethik ohne Metaphysik in ein unauflösbares Dilemma. Recktenwald zeigt, dass eine „kommunikative Vernunft“, basierend auf dem Selbstverständnis der Person, über „rechenschaftspflichtige Autorschaft“, also Freiheit zu verfügen, ohne Metaphysik nicht gegen den allumfassenden Anspruch des Naturalismus gesichert werden kann. Habermas lehnt zwar den naturalistischen Reduktionismus ab, kann aber nicht zeigen, wie Selbstbewusstsein und Freiheit ontologisch begründet sind. Eine Letztbegründung der Interessen, die mit seiner Diskursethik zum Ausgleich gebracht werden sollen, kann er nicht liefern. Die Frage nach dem Sinn kann er nicht beantworten.
Höhepunkt des Buches ist die Fundierung des Anselm’schen Gottesbeweises in der „Evidenz einer sittlichen Erfahrung“. Nicht aus logischer Stringenz ergebe sich die Beweiskraft der Argumentation, nicht aus dem angreifbaren Schluss von etwas Gedachtem auf etwas Existierendes, sondern aus dem richtigen Verständnis dessen, „was nicht größer gedacht werden kann“. Recktenwald begründet ausführlich unter Bezug auf „De veritate“, dass von Anselm mit „größer“ zugleich „besser“, also die Gutheit gemeint ist. Das Entscheidende ist dann die unmittelbare intuitive Schau des „höchsten, sich selbst rechtfertigenden Wertes“. Der kann, wie das in der sittlichen Erfahrung erfasste moralisch Gute, kein bloß Erdachtes sein. Gott als letzte sittliche Instanz ist die „Quelle aller Werthaftigkeit“ und das höchste Gute, sodass es unmöglich ist, seine Nichtexistenz zu denken.
Einen intellektuellen Leckerbissen hätte ich spontan dieses Buch genannt, wäre das behandelte Thema nicht so ernst, denn es geht um alles, um das Menschenbild, um die Verteidigung des Menschen als moralisch verantwortliche, freie und liebesfähige Person. Jeder, der sich fundiert an der Auseinandersetzung darum beteiligen will, sollte dieses Werk lesen.
Baden-Baden: Karl Alber Verlag. 2023
157 Seiten
34,00 €
ISBN 978-3-495-99511-2