Etty Hillesum: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden

Immerhin ganze 80 Jahre nach ihrer Ermordung in Auschwitz ist nun endlich auch auf Deutsch jenes Tagebuch ungekürzt erschienen, das Kennern längst als außerordentliches Dokument nicht nur der Zeitgeschichte, sondern authentischer Spiritualität bekannt ist. Die junge Niederländerin jüdischer Herkunft Esther Hillesum ist trotz der mörderischen Machenschaften der Nazis in der Tat das geworden, was sie werden wollte: genaue Chronistin der perfiden Einschnürung der Juden im besetzten Amsterdam und den Niederlanden, weit mehr aber noch Kronzeugin einer unglaublichen Humanität und Spiritualität in finsteren Zeiten, Vermächtnis und Verpflichtung zugleich. Ihr Tagebuch erzählt, zusammen mit den zahlreichen Briefen, von einem faszinierenden Schnellkurs in menschlicher Reifung, weiblicher Selbstentfaltung und origineller Gottesentdeckung und ist ein Zeitdokument, das seinesgleichen sucht.

Die mustergültige Edition setzt Maßstäbe, weil sie brillante und detaillierte Register enthält, die den umfangreichen Band vielschichtig erschließen helfen und zum differenzierenden Lesen (und Vermitteln!) einladen. Auch die zahlreichen Fotos und Anmerkungen sind wichtig (nur die zu Edith Stein und Meister Eckhart bleiben arg dürftig). Zusammen mit den beiden Übersetzerinnen sei deshalb dem herausgebenden evangelischen Theologen Pierre Bühler ausdrücklich gedankt. Niemand also sollte sich fortan vom Umfang des grandiosen Dokuments abschrecken lassen, denn schnell sind rote Fäden und Leitmotive zu entdecken. Wenigstens drei davon seien kurz hervorgehoben.

Die erhaltenen Tagebücher, insgesamt 11 Hefte, beginnen Anfang März 1941 und brechen am 13. Oktober 1942 ab. Den Anstoß zum Schreiben erhielt die 27-Jährige während einer seelischen Krise durch den Therapeuten Julius Spier, der dann ihr Lebensmensch wurde. Zuerst also ist das Ganze das grandiose Dokument einer unerbittlichen Selbsterkundung und -entfaltung. Das Jura-Studium erfolgreich abgeschlossen, will die hochbegabte und wissensdurstige junge Frau ihren Horizont erweitern, besonders in Psychologie, in Literatur und Slawistik. Vor allem Rilke ist ihr ans Herz gewachsen und wird vielfach auf Deutsch zitiert. Das Tagebuch lässt zudem teilnehmen an der Selbstverständigung einer leidenschaftlichen jungen Frau, die zahlreiche Beziehungen wagt und ihren eigenen Trieb- und Gefühlshaushalt zu gestalten lernt. Immer wieder ist von Krankheiten und Unpässlichkeiten die Rede, die Etty zu bewältigen hat und später selbst als primär psychosomatisch bedingt versteht. Entstanden ist das Tagebuch einer großen Liebe(sfähigkeit) und eines intensiven Freundschaftslebens (mit geradezu unbekümmerter Freiheit, gerade auch Körperlichkeit in das intellektuelle und spirituelle Leben einzubeziehen, und das damals).

Etty Hillesum, die Schriftstellerin werden will und in der Tat große Begabung dazu verrät, nimmt hellwach an den sozialen und kulturellen Veränderungen ihrer Zeit teil. In illusionslosem Realismus nimmt sie die politisch-sozialen Veränderungen durch die Nazi-Herrschaft wahr. Aber sie weigert sich, die zunehmende Unterdrückung und Erniedrigung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger mit Hass zu beantworten. Bewusst weigert sie sich, in den bewaffneten Widerstand zu gehen. Empathisch meditiert sie das Leid auch der jungen deutschen Soldaten. Zeitweise aktives Mitglied im Sozialdienst des Amsterdamer Judenrates, geht sie freiwillig in das Auffanglager Westerbork, um dort zu helfen. Als sie schließlich selbst mit ihrer Herkunftsfamilie dort einsitzen muss, um auf den Transport nach Auschwitz zu warten, bleibt sie durch und durch positiv und hoffnungsvoll – und beschreibt zugleich illusionslos das vorhandene und kommende Elend. Das Tagebuch ist ein brillantes Zeitdokument und zugleich ein Zeugnis großartiger Humanität.

Drittens, und hier besonders hervorzuheben: Die Aufzeichnungen sind das Zeugnis einer höchst intimen und originellen Gottesentdeckung. Selbst in liberal-jüdischen Verhältnissen aufgewachsen und kaum religiös geprägt und geübt, wird sie durch ihren jungianisch geprägten Therapeuten bekannt mit christlichen Autoren wie Augustinus und Meister Eckhart, Rilke und Dostojewskij nicht zu vergessen, und besonders mit der Bibel (wobei der Name Jesus explizit nie fällt). Aber entscheidend ist ihr eigenes Erleben: Gott, der Brunnen in ihr, die Tiefe ihrer selbst, ihr selbst zuvor und gegenüber. Wie selbstverständlich wird Etty Hillesums Tagebuch (und Leben) zum Zwiegespräch mit (diesem) Gott, ein fortwährendes Beten (was natürlich Reflexion stets einschließt und sprengt). Viel zitiert ist inzwischen ihre Zwiesprache mit dem hilflosen Gott, der unsere Hilfe brauchen will, um Raum in der Welt zu behalten und zu finden – Notizen, die vor Jahrzehnten als erster Theologe Hubertus Halbfas in seine Religionsbücher aufnahm. Ganz selbstverständlich und höchst originell kommt dabei die Theodizeefrage zur Sprache. Beten heißt für Etty dabei immer auch knien; nach Ende des Nazi-Schreckens will sie ihre Autobiografie schreiben unter dem Titel: „Das Mädchen, das knien lernte“.

Ob es die Gestaltung der eigenen Sexualität ist oder die Intimität des Gott-Sagens, die Aufzeichnungen Etty Hillesums leben von einer erfrischenden Lebendigkeit voller Entdeckerfreude und Weltlust. Frei vom Ballast gelehrten Wissens und eingefrorener Dogmatik, haben ihre Aufzeichnungen etwas Unbekümmertes und Reines – als würden Ereignisse und Phänomene zum ersten Mal wahrgenommen. Gerade das enthält so viel Sprengkraft und setzt Fragen frei. Dieses Buch ist ein Ereignis, und diese Frau – kaum 30-jährig in Auschwitz ermordet – ist eine besondere Lebens- und Glaubensbegleiterin. Viele ihrer Texte sind unmittelbar für Schule und Bildungsarbeit einsetzbar.

Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941-1943
Herausgegeben von Klaas A.D. Smelik
Deutsche Ausgabe herausgegeben von Pierre Bühler
Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth
Mit einem Vorwort von Hetty Berg
München: C.H. Beck Verlag. 2023
989 Seiten m. s-w Abb.
42,00 €
ISBN 978-3-406-79731-6