Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Franz Josef Wetz: Tod, Trauer, Trost

Sicherlich kennen viele den Kalauer: „Kommt ein Skelett zum Arzt, sagt der Arzt: Sie hätten früher kommen sollen!“ Der Mediziner-Witz weist mit makabrem Humor auf die vital unverzichtbare Vorsorgepflicht in körperlichen Belangen hin; für verantwortungsvoll-reifes Menschsein bedarf es darüber hinaus der weisen Vor-Sorge für die geistig-psychischen Perspektiven, vor allem im Blick auf die letzte Wirklichkeit des menschlichen Lebens: auf den eigenen Tod und den Tod der anderen. Diesem Problemkomplex gelten wesentlich Lehre und Veröffentlichungen des Philosophen und Ethikers Franz Josef Wetz (geb. 1958), der, u.a. nach langen Lehrjahren bei O. Marquard in Gießen, jetzt Philosophieprofessor an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd ist. Wetz sieht seine Aufgabe dabei nicht nur im akademischen Elfenbeinturm; er ist darüber hinaus aktiv in Gruppierungen, die sich einem nicht-religiösen, antimetaphysischen Leitbild verschrieben haben wie z.B.: die Feuerbach-Gesellschaft, die Humanistische Akademie Bayern, die Giordano-Bruno-Stiftung und das Hans-Albert-Institut; zudem ist er ethischer Berater des Anatomischen Instituts für Plastination.

Mit Blick auf den im Buchtitel als Alliteration eingängig formulierten Themenkreis „Tod, Trauer, Trost“ charakterisiert er den Tod zunächst realistisch als „Ärgernis“ und „Katastrophe ersten Ranges“, was eine „menschliche Überforderung“ (101) darstelle. Deshalb ist als anthropologische Konstante die Todesangst festzuhalten, gegen die kaum ein Kraut gewachsen sei. Auf diesem Hintergrund stellen sich für den Autor zwei Fragen. Erstens: Woher rührt jene Todesangst? Zum einen bedeutet unser Ende ein erzwungenes, tod-sicheres Abschiednehmen von all unserem materiell und menschlich Liebgewonnenen; hier öffnet sich eine kränkende asymmetrische Schere zwischen Weltzeit und Lebenszeit (wichtiger Topos bei Hans Blumenberg). Zudem gehört es zur conditio humana, dass wir auf Lebenswillen programmiert sind: Nach unserer unmittelbaren Erfahrung will menschliches Leben „sein“, es wehrt sich gegen seine Auflösung.

Nun stellt sich die zweite Frage: Wie viel Todesangst verträgt der Mensch überhaupt? Einerseits wird der enorm angstbesetzte Komplex heute nicht mehr so stark wie noch vor Jahrzehnten in einen dunklen, verschwiegenen Schattenbereich verdrängt – zu stark sind in der breiten öffentlichen Diskussion Phänomene wie Vorsorgeuntersuchungen, Patientenverfügung, assistierte Sterbehilfe und alternative Beerdigungsformen ein Thema; auch die Medien inszenieren tagtäglich in unseren Wohnstuben Krieg, Hunger, Sterben frei Haus. Und in der gängigen Roman- und Fernsehwelt ist die Zahl blutiger Kriminalfälle zudem Legion. Andererseits ist der uns so begegnende Tod eher entindividualisiert – nichts, was mich höchstpersönlich wirklich treffen könnte.

So bleibt die perenne Todesangst vor allem für zwei noch recht verbreitete Weltanschauungen ein nicht zu lösendes Problem: Zum einen für das traditionelle religiöse Sinnangebot (Auferstehung, Unsterblichkeit), dem allerdings „so viele empirische Tatsachen widersprechen“ (12); Schmerz, Leid und Tod sind und bleiben der „Fels des Atheismus“ (G. Büchner). Zum anderen attestiert Wetz (zunächst überraschenderweise) ideologischen Gegnern der Religionen ebenso Unwirksamkeit in Sachen Sinngebung: Die „Naturalisten“ verschiedenster Couleur – vom antiken Epikur bis zum Materialismus der Gegenwart unserer Tage – versuchen letztlich erfolglos, mit rationalen Argumenten dem Tod seine Bedrohlichkeit zu nehmen. Beide – Theisten wie Naturalisten – unterschätzen die unausrottbare Todesangst und wie zutiefst hinfällig und trostbedürftig menschliche Wesen letztlich sind und bleiben. Also ist Trost weiterhin Mangelware, der freilich oft als bloße Ver-Tröstung daher kommt.

An dieser Stelle entwickelt Wetz seinen spezifischen Ansatz und hält fest, dass man den „Begriff Vertröstung positiv werten“ kann, insofern diese das Todesproblem nicht absolut beseitigen, aber dafür sorgen kann, Letzteres „so auszuhalten, dass man nicht an ihm zerbricht“ (26). Es handelt sich bei solchen Trostpflastern um legitime Hilfskrücken – keine echten Problemlösungen, aber ein schwacher Trost ist, wenn nichts Besseres zuhanden ist, besser als gar keiner. Hier schimmert wohl der Einfluss seines Lehrers Odo Marquard durch, der in seiner skeptischen Anthropologie unter Endlichkeitsbedingungen nur „zweitbeste“ Lösungen für möglich hält, die aber immerhin eine (Überlebens-)Chance bieten, Abstand und Distanz zu den Schrecken der Wirklichkeit aufzubauen (Grundthema auch von Hans Blumenberg). Solche (Ver-)Tröstungen heilen nicht, aber sie können lindern. Wetz breitet nun einen „Erste-Hilfe-Koffer“ solch legitimer Vertröstungspraktiken aus, die er als „Kultur der Ungenauigkeit“ (55 ff.) bezeichnet und uns schwachen Wesen dankenswerterweise einen „Urlaub von der Wahrheit“ zur Verfügung stellen.

Er benennt einen „bunten Strauß“ von sieben tröstlichen Angeboten, in denen es weniger um Wahrheit als vielmehr um Leidminderung geht: 1.: Spitzenreiter dieser Liste ist der wechselseitige menschliche Beistand, wobei durch Spiegelneuronen sensibles Mitfühlen entstehen kann. 2.: Das Lesen: Nicht nur das traditionelle Gebet- und Erbauungsbuch, auch weltliche Texte können Kraft und Tröstung vermitteln, z.B. geeignete Lyrik. 3.: Musik: Tonschöpfungen können bei vielen Menschen – noch mehr als sprachlich-literarische Äußerungen – Ruhe, Frieden und Harmonie erzeugen. 4.: Weinen: In vielen Fällen schafft der Körper unwillkürlich durch Weinen Entlastung – Vergießen von Tränen als eine sekretmotorische Selbstbehauptung des Menschen gegen den drohenden Kollaps der leib-seelischen Einheit (vgl. Helmuth Plessner). 5.: Und auch die gegenteilige Grenzreaktion: Humor/Lachen hilft, mit Tiefen des Lebens fertig zu werden; hier hat z.B. der makabre Galgenhumor (vgl. den eingangs zitierten Mediziner-Witz) seinen heilsamen Ort. 6.: Schlaf vermittelt nicht selten nachhaltige Ruhe und Kraft. Und schließlich noch 7.: Rauschmittel – Alkohol, Cannabis (legalisiert!) und verschiedenste psycho-aktive Rauschmittel helfen, Todesängsten zu entfliehen, denn: „Am Ende zählt, was lindert.“(40) Diese Kultur der Ungenauigkeit ist zutiefst human, da sie die brutale Härte des Todes in einer hilfreichen Unschärfe zeigt, „die Freiheit und Spielräume eröffnet, in denen sich die traurige Brutalität des Todes auch vage und vernebelt zeigen darf“ (56). Vor die Wahl gestellt zwischen schonungsloser Aufklärung/gnadenloser Offenheit oder fürsorglicher Liebe/schonender Täuschung – etwa bei einem Moribunden – entscheide man sich aus Gründen der Humanität für Letzteres; denn eine vage Illusion ist nicht immer Verrat und brutale Ehrlichkeit kann gefühlsroh sein.

Kritische Anmerkungen: Zunächst muss dem Autor rein sachlich widersprochen werden, wenn er behauptet, für die Religionen, speziell für das Christentum, sei angesichts des hier in Aussicht gestellten Hoffnungspotenzials der „Tod nichts“ (17), werde also mit Tendenz gegen null heruntergespielt. Dazu wäre z.B. exemplarisch über das alttestamentliche Hiob-Buch oder über das neutestamentliche Verständnis des Kreuzestodes Jesu zu reden, was hier freilich angesichts der gebotenen Kürze nicht geschehen kann. Ins Gehässige steigert sich die Polemik, wenn dem christlichen Trostpotential vorgehalten wird, dabei störe es den Gläubigen „nicht weiter, dass der Tote weder eine Adresse hinterlässt noch seinen Angehörigen Nachrichten schickt“ (79). Solche Auslassungen zeugen nicht gerade von philosophischer Hochkultur, sondern eher von Hatespeech am Atheisten-Stammtisch (hier wäre das Verlagslektorat kritisch gefordert).

In gebotener Kürze noch ein Blick auf das Kernanliegen von Wetz und auf seine „Kultur der Ungenauigkeit“, die sicherlich in der skeptischen Linie seines Lehrers Odo Marquard mit dessen programmatischem „Abschied vom Prinzipiellen“ steht: Zu freihändig erscheint insgesamt das Verständnis von Wahrheit bei Wetz zu sein: Wenn diese „unerträglich wird, muss es erlaubt sein, sich auch mit einer Lüge erholen zu dürfen. Jeder Mensch braucht gelegentlich Urlaub von der Wahrheit … Wir sollten … manches verdrängen, herunterspielen, vergessen … Mit der Wahrheit muss man es nicht immer ganz genau nehmen.“ (60 f.) Demgegenüber gibt es unzählige Erfahrungen von Sterbebegleitern (die nicht immer „hilflose Helfer“ sind), welche bezeugen, dass der Kranke ein Recht hat und einfordert, wissen zu wollen, wie es um ihn steht und trotz oberflächlicher Abwehr in seiner Tiefenschicht mit der Wahrheit konfrontiert werden will. Die Potenziale menschlicher Resilienz können gottlob größer sein, als Wetz veranschlagt. Vor seinem Remedium Rauschmittel sei aber gewarnt – zu Risiken und Nebenwirkungen frage man seinen Arzt oder Suchtberater.

Was am Ende hilft
Was bedeutet das alles?
Stuttgart: Reclam Verlag. 2022
108 Seiten
6,00 Euro
ISBN 978-3-15-014275-2

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