Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Franz-Xaver Kaufmann: Katholische Kirchenkritik

 

„Kirche begreifen“ – so hieß 1979 der erste Sammelband des Schweizer Soziologen Franz Xaver Kaufmann mit Aufsätzen zu Formen katholischer Vergesellschaftung und Institutionalität in der Moderne. Der nicht durch Weihrauch getrübte Blick auf die kirchliche Sozialgestalt, auf Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, auf Verwaltungshandeln sowie auf Verflechtungsprozesse von Kirche und Gesellschaft war in den 1970er Jahren eine Form, die Impulse des Konzils aufzunehmen und zu fragen, wie es mit dem katholischen Christentum in Europa unter den Bedingungen der entfalteten Moderne weitergehen könne. Das Schicksal solcher innerkirchlichen Dienste katholischer Sozialwissenschaftler im Zeitalter der Pontifikate von Wojtyla und Ratzinger ist bekannt.

Nun ist erneut ein Sammelband mit Aufsätzen und Artikeln erschienen, die im Ganzen dem Diskurskontext der frühen 2010er Jahre zuzuordnen sind. Sie ergänzen und vertiefen eine bereits 2000 erstellte und 2011 unter dem Titel „Kirchenkrise“ erneut vorgelegte systematische Analyse zur Zukunftsfähigkeit des lateinischen Christentums. Kaufmann ist also beim Thema geblieben. Aus diesem Grund muss allerdings auch die mit dem Titel u. U. verbundene Erwartungshaltung enttäuscht werden. Im vorliegenden Buch findet sich nämlich keine übersichtliche, für den alltäglichen Reformdiskurs funktionale Darstellung binnenkirchlicher Gravamina, wie sie zuletzt der „Synodale Weg“ erbracht hat, sondern vielmehr die soziologisch grundierte Kritik des Katholiken Kaufmann an seiner Kirche.

Im Ganzen werden drei Themenfelder sichtbar: allgemeine religionssoziologische Reflexionen, Analysen des Systems Kirche, Überlegungen zur Missbrauchskrise. Tagesaktuelle Beiträge, etwa zur „Entweltlichungs“-Metapher Benedikts XVI., zum „Theologen-Memorandum“ von 2011 oder zur in der Außenwirkung katastrophalen Sodano-Adresse an den Papst im Kontext der Missbrauchsdebatte ergänzen die Analysen. Interessant ist der letzte Abschnitt des Buches, der sich der Problematik katholischer Intellektualität widmet. Schlagartig wird bewusst, was eben auch fehlt – ein katholisch inspiriertes und gleichwohl der Welt und ihren Ambivalenzen gerecht werdendes Denken, das jenseits binnenkirchlicher Selbstverständigung die Res Publica erreichen könnte.

wei Erkenntnisse wird der Leser aus der Lektüre mitnehmen, die ihm freilich auch aus anderen Veröffentlichungen des Autors her schon bekannt sein dürften: Die Macht in der lateinischen Kirche liegt Kaufmann zufolge seit geraumer Zeit bei der Kurie, einem ungeordneten, dem Zugriff des Papstes im Ganzen entzogenen Apparat, der nach eigenen ehernen Gesetzten funktioniert: Komplexitätsreduktion, Zentralisierung, Kontrolle, Verrechtlichung von Religion, Unterscheidung von Innen und Außen: „Der Vatikan liebt klare Verhältnisse.“ (39) Der „römische Geist“ verfehlt damit nicht nur berechtigte Erwartungen an subjektbezogene Religiosität und an Subsidiarität in der Kirche, sondern planiert die katholische Pluralität in bislang nicht gekannter Weise ein. Eine Gesundung der Kirche setzt deshalb eine Selbstbeschränkung römischen Handelns voraus, insbesondere im Bereich der Moraltheologie. Der Soziologe im hoffenden Katholiken Kaufmann ist freilich skeptisch, dass die inhärente Logik des römischen Systems sich jemals wird außer Kraft setzen lassen.

Die gleiche Skepsis betrifft die sozialen Voraussetzungen für die Tradierung bzw. Gewinnung eines motivkräftigen Glaubens. Bislang sei noch keine Antwort gefunden worden auf die Frage, wie nach dem Zerfall des katholischen Milieus und der Übereignung zentraler christlicher Anschauungen an die Zivilgesellschaft der Kern des Glaubens weitergegeben werden könne. Weder haben die immer wieder ins Spiel gebrachten „Hausgemeinden“ bislang etwas bewirken können, noch ist von der kirchlichen „Delokalisierung“, dem Rückbau des Pfarreinetzes, Zukunftsweisendes zu erwarten. Hinter den Visionen, Planungen und Aktionsformen wird viel Ratlosigkeit sichtbar. Insofern sei bis auf Weiteres – so Kaufmann – die Profilierung unterschiedlicher Christentümer gewinnbringender als eine Einheitsökumene.

Das katholische Deutschland verdankt dem mittlerweile 90jährigen Franz Xaver Kaufmann sehr viel, nicht zuletzt die Einsicht, dass eine Epoche unweigerlich an ihr Ende gekommen ist.

 

Luzern: Edition Exodus. 2022
192 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-907386-00-2

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