Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Frédérique Goerig-Hergott (Hg.): Otto Dix – Isenheimer Altar

Seit seiner Gründung 1853 beherbergt das Museum Unterlinden in Colmar/Elsaß den zwischen 1512 und 1516 entstandenen Isenheimer Altar, das bedeutendste Werk von Matthias Grünewald. Das Museum, das nicht nur mittelalterliche, sondern auch zeitgenössische Kunstwerke besitzt, konnte 2016 einen spektakulären Erweiterungsbau einweihen. Die erste Sonderausstellung in den neuen Räumen ist dem deutschen Maler, Zeichner und Grafiker Otto Dix (1891-1969) gewidmet, der 1945/46 Kriegsgefangener bei Colmar war und während dieser Zeit den Isenheimer Altar, der vor nunmehr 500 Jahren vollendet wurde, mehrfach besichtigen konnte. 

Hinter dem schlichten Titel von Ausstellung und Katalog – „Otto Dix – Isenheimer Altar“ – steht die These, dass Grünewalds Altar im gesamten Werk des Künstlers einen bisher nicht ausreichend beachteten Stellenwert einnimmt (vgl. 14). Dazu werden ca. 100 Exponate aufgeboten, einige werden eingehend interpretiert. Ausstellung wie Katalog sind in fünf Stationen gegliedert: (1) In Deutschland erlebt zwischen 1910 und 1918 eine geradezu euphorischen Wiederentdeckung Grünewalds. (2) Dix, der als Kriegsfreiwilliger den Ersten Weltkrieg erlebt, bringt die eigenen Erfahrungen in drastisch realistischen Werken – wie den großformatigen Gemälden „Der Schützengraben“ (1923) und „Der Krieg“ (1929-1932) oder einer fünfzig Radierungen umfassenden Mappe gleichen Titels – ins Bild. (3) Mit dem Beginn der NS-Herrschaft verliert Dix seine Professur, wird als „entarteter Künstler“ geächtet und zieht sich in die „innere Emigration“ in Hemmenhofen am Bodensee zurück. (4) Die Kriegsgefangenschaft bei Colmar erlebt er als tiefe Demütigung, obgleich er, als berühmter Maler erkannt, viele Vergünstigungen genießt. (5) Nach 1946 pendelt Dix zwischen Hemmenhofen und Dresden und verfolgt seinen eigenen künstlerischen Weg jenseits von (westlicher) Abstraktion und (östlichem) sozialistischem Realismus.

Otto Dix ist ein tief in der Tradition deutscher Kunst verwurzelter Maler und versteht sich als Schüler von Cranach, Dürer und Grünewald. Begeistert schreibt er 1945 über den Isenheimer Altar: „… ein gewaltiges Werk von unerhörter Kühnheit und Freiheit abseits aller ‚Komposition’ oder Konstruktion und unerklärlich geheimnisvoll in seinen Zusammenhängen.“ (13) Expressivität, übersteigerter Realismus, gewundene Körper, kontrastreiche Farbigkeit, höchst unterschiedlich komponierte Tafeln und sorgfältige Malerei sind es, die – nicht nur bei Dix – Betroffenheit und Bewunderung evozieren. Diese ikonografische und malerische Tradition greift er bewusst auf und sucht für sie eine neue künstlerische Gestalt, mit der er seine Zeitgenossen berühren und provozieren will.

Auf einem Seitenflügel des Isenheimer Altars wird der heilige Antonius von scheußlichen Dämonen heimgesucht, die ihn von allen Seiten einkesseln und bedrohen. Die Bedeutung dieser Darstellung in Dix’ Werk wird gleich von mehreren Autorinnen und Autoren unterstrichen: Die „kreisförmige Komposition um ein ‚negatives’ Zentrum“ (46) lässt sich auf den Bildern „Der Schützengraben“ und „Der Krieg“ (Mitteltafel) wiedererkennen. Ein weiteres einschlägiges Beispiel: Die Haltung, die der von Pusteln übersäte und inmitten von Kriegsruinen halb liegende, halb sitzende „Hiob“ (1956) einnimmt, entspricht exakt der, die der vom Antoniusfeuer geplagte Mensch in der unteren linken Ecke der Antonius-Tafel einnimmt. Darüber hinaus malt Dix wiederholt den einsamen, bedrohlichen Versuchungen ausgesetzten Eremiten Antonius: In ihm, aber auch in anderen Heiligen wie Christophorus oder Petrus samt Hahn, erkennt er „Gleichnisse meiner selbst und der Menschheit“ (vgl. 26).

„Ich weiß nicht, ob ich gläubig bin oder, oder ob ich ein Atheist oder sonst was bin… Jedenfalls bin ich nicht dogmengläubig, sondern sehr skeptisch“ (255) – so äußert sich Dix 1963. Wie erklärt sich, dass dieser „bekennender“ Nietzsche-Anhänger zu einem der „wenigen großen Christus-Maler und -Zeichner der Nachkriegszeit“ (75) werden konnte? Dix bezeichnet sich selbst als einen „Wirklichkeitsmensch“ – und das, was er in der Bibel liest und bei Grünewald sieht, ist für ihn das wirkliche Leben, das er mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erlitten hat. Jesus, so Dix, war „ein ganz verachteter, lächerlicher Mensch“ und „ist gestorben wie ein Mensch!“ (255) Deshalb malt und zeichnet in er in der Spur Grünewalds keinen schönen, sondern einen leidenden und geschundenen Christus; an ihm wird sichtbar, was Menschen anderen Menschen immer wieder antun. Der auferstehende, sich ins Licht auflösende Christus des Isenheimer Altars indessen interessiert ihn kaum: „Das entzieht sich meiner Kenntnis, weil ich eben Realist bin.“ (256) Mit Hilfe von Hermann Schrödters Religionsbegriff lassen sich Dix‘ Aussagen begrifflich präzisieren: Mit der Religion Christentum teilt Dix das Bewusstsein der radikalen Endlichkeit menschlicher Existenz; und anders als das „dogmatische“ Christentum kann er die Hoffnung auf eine reale Überwindung dieser radikalen Endlichkeit – den Glauben an die Auferweckung – nicht teilen. Theologisch formuliert: Dix malt den Karfreitag, nicht den Ostermorgen.

Das schöne Cover des Katalogbuches ist ein weiterer Anhaltspunkt für die These vom bislang (zu) wenig beachteten Einfluss des Isenheimer Altars auf das Gesamtwerk von Otto Dix: Die „Verkündigung“ (1950) zeigt ein junges, nach dem Geschmack der Zeit gekleidetes Mädchen, das erschrocken und abwehrend auf den heranfliegenden Engel, der mit der Rechten auf sie zeigt, reagiert – alles Motive, die sich auch auf der Verkündigung des Isenheimer Altars finden. Dennoch: Bei der Lektüre der acht aufschlussreichen Aufsätze (12-89) beschleicht den Rezensenten der Eindruck, dass manche Interpretationen etwas zu viel Isenheimer Altar erkennen – frei nach dem Motto „You see verifications everywhere“.

Der Hauptteil des Katalogs besteht aus zahlreichen Abbildungen des Altars (90-115) und der ausgestellten, zum Teil nur selten reproduzierten Exponate (116-242). Eine Chronologie Isenheimer Altar – Otto Dix (243-253) sowie Äußerungen des Künstlers über Krieg, Religion und Kunst (254-257) runden ein klug konzipiertes, überaus sehens- wie lesenswertes Buch ab.

Paris: Éditions Hazan. 2016 / Stuttgart: Belser Verlag. 2016
264 Seiten m. farb. Abb.
35,00 € / 39,90 €
ISBN 9782754109727 / 978-3-7630-2777-4

 

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