Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologie im Welthorizont

Der Münchner emeritierte Professor für Systematische Theologie und Ethik Friedrich Wilhelm Graf erinnert in seiner umfangreichen Biographie an einen der brillantesten Intellektuellen des deutschen Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik: den Theologen, Kulturphilosophen und politisch engagierten Zeitgenossen Ernst Troeltsch. In dessen Leben und Werk spiegeln sich die sozialen und geistigen Umbrüche der Zeit sowie ihre Folgen für die christliche Existenz und das theologische Denken. Troeltsch setzt sich diesen Wandlungsprozessen als Denker und politisch handelnder Zeitgenosse aus. So entsteht das Bild eines außergewöhnlichen Intellektuellen im Spannungsfeld von Glauben und modernem Denken, dessen Interessenvielfalt und Intensität seiner Engagements ihn zu einer innerlich widersprüchlichen und umstrittenen Persönlichkeit machen, die Graf mit dem Begriff des „Vielspältigen“ kennzeichnet. Auch seinem Werk haftet etwas Fluides und Labiles an, das sich nicht zu neuer Dogmen- oder Systembildung eignet. Dies und sein früher Tod im Jahre 1923 haben dazu beigetragen, dass Troeltsch im Unterschied zu seinem langjährigen Freund, dem Soziologen Max Weber, in Vergessenheit geriet und einer Wiederentdeckung bedarf.

Ernst Troeltsch wurde 1865 als Sohn eines Arztes geboren und entstammte einer angesehenen und alteingesessenen Augsburger Familie. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er Theologie und Philosophie in Augsburg, Erlangen, Berlin und Göttingen. Nach Promotion, Habilitation und Ordination zum Pfarrer lehrte er zunächst an der Universität Bonn, bevor der erst 29-Jährige als Ordinarius für Systematische Theologie an die Universität Heidelberg berufen wurde.

Während seines Studiums wurden ihm in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Wissenschaft und der Beobachtung der Gesellschaft die fundamentalen Spannungen zwischen den „Ehrbegriffen“ der modernen bürgerlichen Gesellschaft einerseits und den religiös-sittlichen Prinzipien eines ernst genommenen Christentums andererseits bewusst. Er wollte ein guter Protestant sein und sah, wie schwer dies in der vom Kapitalismus geprägten, durch Konkurrenz, Machtstreben und Weltanschauungskämpfe bestimmten modernen Welt war. In der Frage, wie zwischen den überlieferten Glaubensbeständen des Christentums und der von den Wissenschaften geprägten Moderne und ihren demokratischen Freiheitsidealen zu vermitteln sei, hatte Troeltsch sein erstes großes Thema gefunden. Während seiner Zeit als junger Wissenschaftler in Göttingen wurde ihm immer deutlicher, dass auch theologische Wissensbestände durch soziale Verhältnisse und institutionelle Prägekräfte bedingt und damit wie alle kulturellen Phänomene relativ sind. Deshalb darf sich Dogmatik nicht damit begnügen, Traditionswissen nur erläuternd weiterzugeben, sondern sie muss dazu beitragen, den religiösen Glauben mit der heutigen Lebenserfahrung zu vermitteln. Mit dieser kritischen Einstellung geriet Troeltsch in Widerspruch zur Mehrheit der orthodoxen Dogmatiker und entwickelte sich zum Religionshistoriker, dem die Erforschung von Religion im weitesten Sinne wichtiger wurde als ihre christlichen oder konfessionellen Erscheinungsformen. Dieser Entwicklung kam der Ruf an die Berliner Universität im Jahre 1915 entgegen. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Reputation erhielt er einen auf seine Forschungsinteressen zugeschnittenen Lehrstuhl für Religions-, Sozial- und Geschichtsphilosophie und christliche Religionsgeschichte, und zwar in der philosophischen Fakultät.

In der Weimarer Republik wurde Troeltsch politisch aktiv. Nachdem er als Rektor der Universität Heidelberg qua Amts schon Abgeordneter in der Badischen Ständeversammlung gewesen war, engagierte er sich nach dem Untergang des Kaiserreichs in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), indem er für eine demokratische Verfassung und die politische Teilhabe der unteren Bevölkerungsschichten eintrat.

Ernst Troeltsch starb am 1. Februar 1923 plötzlich auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Mit seiner Biographie hat Friedrich Wilhelm Graf dem Theologen und Wissenschaftler, dem Politiker und Zeitgenossen ein Erinnerungsmal gesetzt, das dessen historische Bedeutung und uneingelöste Visionen auf anschauliche Weise in Erinnerung ruft.

Eine Biographie
München: C.H. Beck. 2022
638 Seiten m. Abb.
38,00 €
ISBN 978--3-406-79014-0

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