Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Georg Lämmlin (Hg.): Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der postsäkularen Gesellschaft

Mit dem zur Rezension vorliegenden Band sollen gleich mehrere Anliegen eingelöst werden. Zuvorderst versammelt der Band Tagungsbeiträge, die zum titelgebenden Thema zusammengetragen wurden. Darunter die zwei sozial- und bildungswissenschaftlichen Keynotes der Tagung von Ferdinand Sutterlüty „Kirchen zwischen Gesellschaftskritik, Affirmation und Eskapismus: Zur Rolle religiöser Ideen“ und von Monika Jungbauer-Gans zu „Bildung und soziale Integration – wie hat sich die Bildungsbeteiligung im Zeitverlauf verändert“. Zudem greift der Band unter der Überschrift „Texte des Sozialwissenschaftlichen Instituts“ weitere Beiträge im Umfeld des Themas auf: Einen Beitrag des Herausgebers zu „Ekklesiologischen Innovationen“, den der Verfasser pandemiebedingt nicht auf einer einschlägigen Tagung präsentieren konnte, sowie eine Replik von Andreas Meyert auf einen ebenfalls als Beitrag veröffentlichten Appell des Sozialwissenschaftlichen Instituts [SI] zur solidarischen und nachhaltigen Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise in Europa. Daneben wurde die Tagung und somit auch der vorliegende Band genutzt, zur Initiation von Prof. Dr. Georg Lämmlin als neuer Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD beizutragen und eine neue Reihe „SI-Diskurse I Gesellschaft – Kirche – Religion“ im Nomos-Verlag zu begründen.

Mit dem Tagungs- und Bandthema hat sich das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD und ihr neuer Leiter ein höchst relevantes und aktuelles Thema zur Bearbeitung vorgenommen. Nicht zuletzt durch die neuesten Beiträge von Jürgen Habermas, auf dessen 2019 erschienenes Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ vor allem Lämmlin in seinen zwei Beiträgen und seinen rahmenden Ausführungen immer wieder Bezug nimmt, hat die Frage der Verhältnisbestimmung von Kirche, Religion und Gesellschaft unter den Vorzeichen des Postsäkularen an neuem Aufschwung und Facettenreichtum gewonnen. Die Übersetzung, Durchdringung und Weiterführung dieses sozialphilosophischen Diskurses in theologischen und kirchlichen Foren ist ein sicherlich gewinnbringendes und zu neuen Erkenntnissen führendes Projekt.

Das deutet sich auch in den kritischen Anfragen an, die Sutterlüty in seiner Keynote aufwirft, wenn er einerseits das gesellschaftskritische Potential von Kirche sozialhistorisch hervorhebt und im Anschluss an Habermas et al. Bedeutung und Rolle religiöser Ideen für die postsäkulare Zivilgesellschaft betont, anderseits einen Verlust religiöser Sprache nachzeichnet, aufgrund dessen Potentiale und Rollenerwartungen an Kirche und kirchliche Akteure uneingelöst blieben. Die theologisch antwortenden Beiträge aus dem SI auf diese kritischen Problemanzeigen weisen auf weiterführende Interpretationen, Wahrnehmungen und Erfahrungen im Umgang mit den genannten Herausforderungen hin. Mit seinem Tagungsbeitrag zur Religionsforschung unternimmt Lämmlin schließlich den Versuch, sich und damit die von ihm geführte Institution in der postsäkularen Gesellschaft zur verorten. Weder in Eigen- noch Gemeinsinn aufgehend spricht er sich im Anschluss an Hartmut Rosa für die kirchliche Ermöglichung von Resonanzräumen aus, in denen Selbst- und Weltverhältnis unter dem Eindruck religiöser Vermittlungsformen spannungsreich in Beziehung gesetzt werden können. Mit durchaus praktisch-theologischer Relevanz werden diese Verortungen schließlich konzeptionell weitergeführt, wenn Lämmlin in einem weiteren Beitrag neue Kirchenbilder und -konzepte, wie etwa „Liquid Church“ und „Hybridisierung“ einordnet und würdigt.

Es sind diese Beiträge, die neugierig machen und Interessen daran wecken, den Weg des SI unter Lämmlin in der Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft aufmerksam weiter zu folgen und die über die Schwächen des Anfangsbandes hinwegsehen lassen, dem keine rechte Integration des bildungswissenschaftlichen Ansatzes von Jungbauer-Gans in das Gesamtgefüge gelingt, der zwar das berechtigte Anliegen umsetzt, kritische Tagungsbeiträge und -kommentierungen aufzunehmen und dadurch Interpretationspanoramen anzubieten, in denen aber die vielfach aufgeworfenen Fragen an die Keynotes gänzlich unbeantwortet bleiben, und der in der Versammlung sehr unterschiedlicher Diskursbeiträge den thematischen Bogen bisweilen sehr weit fasst, weshalb es z.B. schwerfällt, die durchaus bemerkenswerten appellarischen Ausführungen zum Coronadiskurs mit den übrigen Beiträgen in Zusammenhang zu setzen.

Soziologische und theologische Beiträge
SI-Diskurse I Gesellschaft – Kirche – Religion Bd. 1
Baden-Baden: Nomos Verlag 2021
184 Seiten m farb. Abb.
36,00 €

ISBN 978-3-374-06867-8

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