Bestellen
auf Buch7.de - sozialer Buchhandel
Gregor Maria Hoff: In Auflösung. Über die Gegenwart des römischen Katholizismus
Die Kirche ist zweifelsohne in der Krise. Dies zu bestreiten, wäre realitätsfern. Wie weit diese Krise geht, ist umstritten. Der Salzburger Fundamentaltheologe Gregor Maria Hoff geht mit seinem nicht als systematisch angelegte Ekklesiologie, sondern als pluriperspektivischer Essay konzipiertem Buch gezielt in das Zentrum des Katholizismus – nach Rom. Dort ist dieses Werk auch in großen Teilen entstanden. Die Leitidee ist: Der römische Katholizismus ist in Auflösung. Das bedeutet nicht das Ende des Katholizismus, es könnte sogar zu seiner Wiederentdeckung führen. Dieser vorsichtigen Prognose am Ende des Buches gehen acht luzide und komplexe Analysen voraus, die Hoff anlehnend an die Kameraführung „Blenden“ nennt. Eingerahmt von einer Einblendung und Abblendung, die den Begriff „Auflösung“ zwar noch mit einem Fragezeichen versieht, verfolgt Hoff pointiert seine Leitidee. Der römische Katholizismus der Societas perfecta, der sich im 16. Jahrhundert unter Pius V. gegen die Reformation formierte und im 19. Jahrhundert unter Pius IX. gegen die säkulare Moderne mit dem Unfehlbarkeitsdogma und dem Jurisdiktionsprimat seinen Höhepunkt erreichte, ist mit seinem exklusiven Wahrheitsanspruch, mit seinem zentralistischen Machtanspruch und mit seiner klerikal ästhetischen Formatierung in Auflösung.
Die erste Blende beginnt mit dem Segen Urbi et orbi, den Papst Franziskus während der Corona-Pandemie auf dem leeren Petersplatz spendet. Die Corona-Pandemie gehört wie die Säkularisierungsprozesse, die ökologische Krise und die Digitalisierung zu den Herausforderungen, die die tradierte Wahrheitsform des römischen Katholizismus in Auflösung bringt.
Die folgende Blende geht dem nach, was Rom zu dem bestimmenden Glaubensraum des Katholizismus historisch gemacht hat. Von den einschlägigen Bibelstellen über kirchengeschichtlich wichtige Etappen bis hin zu philosophischen Analysen des 20. Jahrhunderts wird gezeigt, wie Rom zu dem Identitätsmarker des Katholischen schlechthin codiert wurde. Demgegenüber zeigt die dritte Blende mit unterschiedlichen religionssoziologischen Einsichten, wie sowohl von innen etwa durch die Rolle des pentekostalen Katholizismus, für den die Loretto-Bewegung exemplarisch steht, wie von außen durch das Verschwinden einer religionskulturellen katholischen Prägung in säkularisierten Gesellschaften – wie der unseren – die römisch-katholische Kirchenbindung sich auflöst.
Mit der vierten Blende geht es um den Wahrheitsanspruch des Katholizismus, der sich am päpstlichen Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanischen Konzils manifestiert. Das Zustandekommen des Dogmas wird gleichermaßen zum Thema wie die Ambivalenz des katholischen unfehlbaren Wahrsprechens im gegenwärtigen Umgang mit der Frage der Frauenordination.
Mit den Blenden fünf und sechs werden die Pontifikate des deutschen und des aktuellen Papstes in den Blick genommen. Unter Benedikt XVI. kommt es gleichermaßen zu Rückzugsgefechten gegen die Diktatur des Relativismus wie zur Selbstrelativierung durch den Rücktritt Benedikts XVI. und der ikonischen Präsenz zweier Päpste. Wird durch den Umgang mit dem Münchner Missbrauchsgutachten Benedikt XVI. als tragische Gestalt wahrgenommen wird, so wird der Papst vom anderen Ende der Welt als Gestalt katholischer Ironie gesehen, der insbesondere mit seinem synodalen Anliegen von der höchsten Repräsentanz des römischen Katholizismus diesen selbst von der Spitze her in Auflösung bringt.
Die siebte Blende verweist auf den Missbrauchskomplex und den Verlust der Glaubwürdigkeit, der durch die ungenügende Aufarbeitung in der römischen Zentrale das wichtigste Kapital einer Religionsgemeinschaft – das Vertrauen – verspielt.
Die letzte Blende greift auf die die erste zurück und stellt die Frage, ob die Corona-Pandemie nicht gezeigt hat, dass der Glaube und seine sakramentale Vermittlung ins Leere laufen. Dies verschärft sich angesichts der Digitalisierung und deren Zeichenproduktionen, die sich weder dogmatisch noch disziplinär domestizieren lassen.
Die Analysen von Hoff zur gegenwärtigen Ambiguität und Widersprüchlichkeit des römischen Katholizismus in seiner tradierten Sozialgestalt als Societas perfecta sind überzeugend. Dass diese spezifisch neuzeitliche Sozialgestalt zu Ende geht und am Ende ist, ist offensichtlich. Ob dies allerdings zur generellen Auflösung des römischen Katholizismus führt, halte ich nicht für ausgemacht. Zu sehr ist das Römische in die DNA des Katholischen eingeschrieben. Die durch das Zweite Vatikanische Konzil in Rom initiierten Reformen und der neue Stil päpstlicher Amtsführung unter Franziskus könnten Hinweise darauf sein, dass „Rom“ begonnen hat, sich auch von innen her im 3. Jahrtausend neu zu codieren, nicht mehr als die exklusiv dogmatisch, disziplinär und ästhetisch normierende Gegenwart des Katholischen, sondern als eine im globalen Konzert pluraler Gegenwarten des Katholizismus anders zu bestimmende Größe. Im Heiligen Jahr 2025 werden in Rom täglich 100.000 Pilgerinnen und Pilger erwartet. Auflösung sieht anders aus.
Freiburg: Herder Verlag. 2023
223 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-451-39684-7